Heute, auf der Heimreise von Bern nach Thun, sah ich Herrn Schwab. Die Fahrt dauert ungefähr 26 Minuten und den ersten Tritt in den Eisenbahn-Wagen konnte ich kaum erklimmen, so hoch war er. Das machte mich leicht sauer. Ich setzte mich – Marktwagen und nassen Schirm neben mir – und gleich fielen mir die zwei Herren im nächsten Abteil auf. Sie diskutierten laut und aufgeregt – ich hätte mich gerne anderswohin gesetzt. Doch beim Eingang stand jetzt ein Kinderwagen und die Mutter telefonierte gerade, so mochte ich nicht stören. Ich lehnte mich zurück und beobachtete die beiden lauten Herren. Der eine kam mir entschieden bekannt vor. Ich begann in meinem langsam nicht mehr so zuverlässigen Erinnerungs-Buch zu blättern. Da kann ich hartnäckig werden! War das nun ein Politiker, hatte ich das breite Lachen schon vom Bildschirm flimmern sehen? Nein – aber vielleicht einer der Ärzte des Spitals, als ich den Arm gebrochen hatte – oder der Augenarzt, Zahnarzt? Nein, auch nicht. Es musste weiter zurück liegen. Ich beobachtete den Mann scharf. Vielleicht ein alt gewordener Lehrer aus der Schulzeit – unmöglich, die lebten sicher nicht mehr.
Er war konventionell gekleidet, mit Kravatte, also sicher nicht ein Handwerker, Nachbar oder Ladenbesitzer. Sein Gesicht war sehr rot. Regte er sich gerade auf, oder war er an der Sonne gewesen? Ein Rotarier – könnte sein – oder vom Seniorentanz? Die Stimme kam mir ebenfalls bekannt vor, leicht heiser, verhalten… Der andere war entschieden lauter! Wo hatte ich bloss diese Stimme schon gehört? Ich versuchte, unauffälliger zu starren.
Da holten die Männer Papiere aus ihren Aktentaschen . Also: waren sie vielleicht von der Zytbörse – oder irgend einem Amt? Ich spürte, wie ich dem Rätsel näher kam. Plötzlich, urplötzlich klickte es – die Erinnerung war zurück. Natürlich: Herr Schwab!! Der war aber seit dem letzten Jahr tüchtig gealtert! Ich lachte ihn an und sagte herzlich: «Herr Schwab, beinahe hätte ich sie nicht wiedererkannt!» Wenigstens hatte ich jetzt die volle Aufmerksamkeit der beiden Herren. «Ich bin nicht – das ist nicht Herr Schwab», sagten die beiden gleichzeitig. Jetzt, wo mein Gedächtnis endlich funktionierte, liess ich mich nicht so leicht abspeisen und ich hakte nach: «Herr Schwab, vom Treuhandbüro, meine Steuer-Erklärung…» sagte ich ermunternd. Er blickte mich verwirrt an. «Nein, ich heisse Gerber». Der will mich ärgern. Ich sehe doch immer deutlicher, dass es Schwab ist! Um einzulenken erkundigte ich mich nach seinen Ferien , worauf er verwirrt sagte: «Ja, ich war in Davos». Natürlich, eine weitere Bestätigung! Herr Schwab geht immer nach Davos! Da mischte sich der andere Herr ein und sagte energisch: «Sie irren sich, liebe Frau, das ist nicht Herr Schwab!»
Da soll bloss niemand zu mir sagen «liebe Frau»!
Thun. Ich drängte mich am Kinderwagen vorbei zum Ausgang, nachdem ich den Herren kühl zugenickt hatte. Ich werde doch Herrn Schwab noch kennen! Vom Treuhandbüro.
Wie soll ich dem beim nächsten Besuch noch trauen