Am Bahnhof Visp treffen wir Veronika Lutz. Wir machen uns auf den Weg ins Café Mikado in der Nähe. Bereits auf dem Weg dorthin beginnt Vroni, wie wir sie nennen dürfen, von sich zu erzählen. Sie erklärt uns, wo sie wohnt und dass sie vor dem Interview noch beim Coiffeur war, da es zuvor stark geregnet hatte. Man merkt ihr an, wie aufgestellt sie ist.
Lange, schwere Vorgeschichte
Im Mikado angekommen, erzählt Vroni weiter. Seit sie sich erinnern kann, wusste sie, dass sie lieber weiblich wäre. Als Kind habe er, damals noch Reinhard, oft im Geheimen Frauenkleider getragen. Frauen waren für ihn schon immer viel interessanter und hübscher als Männer. Als er im Alter von zwölf Jahren eines Tages seinem Vater gestand, wie er sich fühlte, erhielt er als Antwort nur, dass er reif für die Psychiatrie sei.
Der Vater hatte als Firmenchef mit Tausend MitarbeiterInnen einen Namen zu verlieren und somit überhaupt kein Verständnis. Die beste Lösung schien ihm, dass Reinhard möglichst bald eine Frau finden und heiraten sollte, um auf andere Gedanken zu kommen. Das tat er dann auch. Mit 21 Jahren heiratete er und bald darauf kam das erste Kind. Reinhards Leben bestand grösstenteils aus Arbeit und Feierabendbier. Einige Jahre ging das gut so. Er machte Karriere in der Giessereibranche. Er vertraute sich allerdings nie mehr jemandem an, denn er hatte Angst, man würde ihn in die Psychiatrie einweisen.
Die Wende
Das ging so weiter, bis er 55 Jahre alt war. Damals erlitt er sein erstes Burnout. Der Arzt riet ihm, sich auszuruhen, doch nach zwei Wochen war er bereits wieder am Arbeiten. Kurz darauf folgte das zweite Burnout. Dieses brachte ihn drei Tage lang ins Koma. Daraufhin musste er ein ganzes Jahr zuhause bleiben, bevor er die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Aber auch danach dauerte es nicht lange: Im Alter von 58 Jahren kam das dritte Burnout. Er musste daher in eine Klinik eintreten. Auch Selbstmordgedanken waren keine Ausnahme mehr. So konnte es nicht weitergehen. In Einzelgesprächen mit einem Psychiater vertraute sich Reinhard das erste Mal seit vielen Jahren jemandem an. Von da an ging es aufwärts. Nun war die Geschlechtsumwandlung relativ schnell möglich. Normalerweise wäre es eine Prozedur von mehr als zwei Jahren gewesen.
Doch der Psychiater erkannte seine Situation sofort und leitete alles in die Wege, um Reinhard von seiner Last zu befreien. Bereits nach sechs Monaten Hormoneinnahme stieg er in den Zug zur Privatklinik. Er wusste, er würde als Mann hinfahren und als Frau zurückkehren. Nervös war er gar nicht, eher beruhigt. Nach sechseinhalb Stunden war Reinhard zu Veronika geworden. Sie sagt, sie habe diese Entscheidung bis heute keine Sekunde lang bereut.
Reaktionen von Mitmenschen
Natürlich reagierten Veronikas Mitmenschen auf die Veränderung. Insgesamt waren es aber hauptsächlich gute Erfahrungen. Viele Leute sind neugierig und stellen zahlreiche Fragen. Vroni gibt gerne Auskunft. Auch Leute, die sie nicht verstehen können, respektieren sie und verhalten sich ihr gegenüber völlig normal.
Vroni erzählt, sie habe bessere Erfahrungen mit den Leuten im Wallis gemacht als in ihrer Heimat im Zürcher Oberland. Mit ihrer Familie kommt sie gut aus, und ihre heutige Ex-Frau hatte ihr nach der Umwandlung sogar geholfen, Kleider auszusuchen.
Heute ist alles gut
Vroni ist sehr glücklich. Sie lebt im Goms und geniesst das Pensioniertenleben. Sie sagt, sie fühle sich heute nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ganz anders. Sie finde Gefallen an Dingen, die sie vorher wenig interessierten. Sie gehe zum Beispiel nicht mehr an den Stammtisch und habe auch angefangen zu häkeln. Kochen gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Einiges habe sicher mit den Östrogenen zu tun. Sie spüre auch kaum mehr Aggressivität und sei insgesamt viel feinfühliger geworden. Veronika freut sich enorm über die Haare, die jetzt dort wachsen, wo dreissig Jahre lang eine Glatze war.
Schattenseiten?
Natürlich brachte die körperliche Veränderung auch einige Schwierigkeiten mit sich. So muss sie heute zum Beispiel auf langen Autofahrten eine Toilette suchen, was früher nicht zwingend notwendig war. Aber auch die Muskulatur hat sich verändert.
Sie kann daher heute weniger schwer tragen. Zudem treibt Vroni viel Sport, um nicht zuzunehmen, denn auch das geht jetzt viel schneller als früher. Trotz all dem geniesst Vroni das Frausein und ist jeden Tag glücklich mit ihrem Leben.
Blick in die Zukunft
Vroni freut sich: «Ich bin heute glücklicher, als ich es jemals war.» Wenn sie sich dennoch etwas wünsche, wäre es vielleicht eine Freundin, denn sie fühle sich nach wie vor zum weiblichen Geschlecht hingezogen. Aber sie sei auch ohne Freundin glücklich.