
«wohnen UND leben» besuchte Ende November 2023 zusammen mit weiteren Interessierten die Generationenwohnsiedlung Burgdorf. Auf dem Bahnsteig von Steinhof wird das Grüppchen aus Thun von Christa Schönenberger (57) freudig in Empfang genommen. Sie ist als Gemeinwesenarbeiterin von der GeWo angestellt. Auf dem Spaziergang zur Siedlung kommen wir sofort ins Gespräch. Sie zeigt auf zwei Blocks direkt neben dem Bahnhof, die sehr lebendig aussehen, mit vielen Pflanzen auf den Balkonen und behängt mit bunten Wimpeln. Fast ein wenig wehmütig bemerkt sie: «Das ist ein neueres Projekt. Hier leben Menschen zusammen, denen die Gemeinschaftspflege ein grosses Anliegen ist. Bei uns ist das ein wenig anders.» Und wirklich, die vier Wohnblocks der GeWo Burgdorf sehen aus wie eine x–beliebige Wohnsiedlung, eher schmucklos und zweckmässig. Allerdings, zwischen den Häusern befindet sich eine einladende Begegnungszone mit Feuerstelle, Spielgeräten und Tischen. Wir können uns gut vorstellen, wie die Leute hier nach Feierabend zusammensitzen.

Wir, inzwischen ist unsere Gruppe von zehn Interessierten vollzählig, versammeln uns in einem der Gemeinschaftsräume und Christa Schönenberger erzählt aus dem vollen Leben.
Zuerst aber ein paar Infos zur Geschichte der Siedlung, die wir der Begleitdokumentation der Age – Stiftung entnehmen:
Wunderbare Visionen
Im Jahr 2010 schrieb die Stadt Burgdorf einen Ideenwettbewerb aus für eine Zone mit Planungspflicht für experimentelles Wohnen. Mit dem Siegerprojekt der ehemaligen Genossenschaft Generationenwohnen versprach man sich einen grossen Nutzen für die Allgemeinheit. Dies zeigt folgende Passage aus der Überbauungsordnung:
«Mit diesem Wohn- und Lebenskonzept kann auch dem stetig wachsenden Mangel an Pflege- und Betreuungspersonen entgegengewirkt werden, können Kosten gespart und kann vor allem ein Beitrag an die Gesundheitsförderung der Siedlungsbewohnenden geleistet werden. (…): Möglichst grosse Autonomie beim Wohnen, auch im höheren Alter oder bei Behinderungen; Verbleib in der gewohnten Wohnform und Wohnumgebung, auch bei zunehmendem Bedarf an Unterstützung; Stärkung des Kontaktes zwischen den Generationen und gegenseitige Nutzung der Ressourcen auf freiwilliger Basis; Teil sein eines sozialen Netzes zur Vermeidung von Vereinsamung.»
Die Gebäudeversicherung als Baurechtsnehmerin und die Genossenschaft schlossen einen Vertrag ab. Angedacht waren 94 hindernisfreie Wohnungen, wovon einige Cluster bis 6einhalb Zimmer mit je einem eigenen Bad, grosszügige Gemeinschaftsflächen, Ferienzimmer, Gästezimmer, ein Eventraum und ein Kaffeetreff mit Waschsalon. In einem separaten Gebäude sollte ein Siedlungsbüro untergebracht sein, als Info – Drehscheibe, als Koordinationsstelle für Nachbarschaftshilfe und Anlaufstelle bei Problemen, zudem die Spitex, Therapieräume, eine Pflegewohnung oder Tagesstätte, eine Arztpraxis, eine Krippe und Räume für kleine Geschäfte.
Rückschläge und Neuanfang
Einsprachen verzögerten das Vorhaben, rege Bautätigkeit in der Umgebung führte zu einem Preiszerfall für die Mieten. Infolgedessen zog sich 2018 die Genossenschaft zurück, da sie den Vertrag nicht einhalten konnte.
Obwohl das Vorhaben stark abgespeckt wurde, zeigte sich bald, dass nur ein renditeorientiertes Bauprojekt realisiert werden konnte.
Investoren und die Immobilienfirma Lubana AG beteiligten sich. Die Gebäudeversicherung hatte keine Erfahrung mit experimentellem Wohnen, musste aber diese Auflage erfüllen. Deshalb die Gründung einer Betriebsgenossenschaft mit Mitwirkungsmöglichkeit und eine Moderation durch die Gemeinwesenarbeit von Pro Senectute.
Vom guten Nebeneinander zum Miteinander
Als Moderatorin wurde Christa Schönenberger, Gemeinwesenarbeiterin der Pro Senectute, angestellt. Sie startete ihre Arbeit im Jahr 2019. Es galt, die Zuständigkeiten zwischen dem Vorstand der Genossenschaft, der Lubana AG und ihr abzustecken. Am Anfang war der Umgang mit diesen Schnittstellen sehr schwierig. – und ist es wohl manchmal noch heute!

Allerdings wussten bald viele ihren Einsatz zu schätzen. Hier ein Zitat von Marc Schranz, 24-jährig, Volkswirtschaftsstudent und Genossenschaftsvorstand: «Die Arbeit der soziokulturellen Animation ist unglaublich wichtig! Man muss sich vorstellen: Alle ziehen hier ein, und niemand hat eine Vorstellung davon, was eigentlich der Hintergrund dieses Projekts ist. Da ist es zentral, dass eine Ansprechperson hier ist, die Zeit und Energie investiert, um die Gemeinschaft aufzubauen. Das ist ein Riesen – Aufwand, den wir als Bewohnende oder Vorstandsmitglieder nicht bewältigen könnten. Dank Christa Schönenberger konnten wir eine Jahresplanung machen. Wann stehen welche Entscheide an? Wer muss entscheiden? Wann muss welche Sitzung stattfinden? Dann die Sitzungen vor- und nachbereiten. Das kann nur eine Person organisieren, die den Überblick und Kontakte zu allen Beteiligten hat. Das braucht viel Zeit für Administratives und vor allem auch, um die Beziehungen zu pflegen. Die soziokulturelle Animation senkt die Schwelle für Kontakte stark. Dadurch entstanden schon nach kurzer Zeit interessengeleitete Gruppen mit regelmässigem Austausch, und eine teilweise sehr weit gehende Nachbarschaftshilfe begann sich zu etablieren. Voraussetzung dafür ist die professionelle unterstützende Moderation. Damit scheint der Wunsch der Stadt Burgdorf, dass die Siedlung Sozial- und Pflegekosten zu vermeiden helfe, aufzugehen. Sie stützt mit Sicherheit den allgemeinen Zustand von älteren Bewohnenden und solchen mit Beeinträchtigungen. Erfahrungsgemäss unterstützen die vielen sozialen Kontakte die Früherkennung von Betreuungsbedarf und motivieren ältere Menschen zur Selbstpflege.»
Dieser Text aus der Dokumentation sagt vieles aus über die Arbeit eines Siedlungscoaches.
Nun sind wir aber gespannt auf Informationen aus erster Hand.
Was kannst du gut? Was machst du gern?
Wo eine Siedlungsarbeiter:in tätig ist, kann ein Demokratisierungsprozess stattfinden. «Wir teilen einen Raum miteinander». Alle dürfen sich einbringen, haben aber oft Hemmungen, den ersten Schritt zu tun. Ohne Moderation und soziokulturelle Arbeit würde der Schritt zu einem Engagement nicht gemacht. Christa Schönenberger gibt den Tipp, keine allgemeinen Aufrufe zur Mitarbeit zu machen, sondern möglichst gezielt Leute anzufragen. Sie spricht mit allen Neumietern und nimmt ihre Interessen in einem «Talent – und Ideenschatz» auf. «Was kannst du gut? Was machst du gern?»


Und so entstehen verschiedene Arbeits – und Interessengruppen, die sich für die Gemeinschaft einsetzen, wie Garten/Permakultur, Café, Fitness, Social Media, Technik, Kleidertausch, Handarbeiten und Kochen.
Organisiert werden ein jährliches Siedlungsfest, Adventsfenster, gemeinsames Backen, offene Mittagstische, Spielabende, das Kartoffel–Erntefest mit Raclette–Essen und anderes. Die Installation eines Madame Frigo steht bevor.
Entwicklung des «Wir-Gefühls»
Die grösste Bewohnergruppe stellen alleinstehende Frauen, von denen wir drei kennenlernen dürfen. Susanne Binggeli (47), ein Vorstandsmitglied, begegnet uns im Garten, der einen wichtigen Platz in ihrem Leben einnimmt. Gemüsebeete, auf denen immer noch Federkohl geerntete werden kann und einige Hochbeete befinden sich hier in der Winterpause. Zwei Frauen empfangen uns im Gemeinschaftsraum, wo sie für uns einen Imbiss vorbereitet haben, Verena Keller (81) und Margrit Semling (80). Sie erzählen uns begeistert vom wöchentlichen Fitnesskurs mit einem wohl sehr sympathischen jungen Mann.
Allerdings gelingen nicht alle Vorhaben. Verena erzählt, dass ein Neuzuzügerapéro organisiert wurde und lediglich die bisherigen Bewohnenden es wagten zu erscheinen. Vielen BewohnerInnen, vor allem zu Anfang, bereitet es grosse Mühe auf andere zuzugehen. Sie sind zurückhaltend, ja schüchtern. Auch der Respekt vor Verantwortung ist sehr hoch.

Ein Teil der Bewohner:innen mag sich nicht in einer der Gruppen engagieren und dazu besteht auch kein Zwang.
Jedoch zahlen alle via Miete in einen Gemeinschaftstopf ein, aus dem verschiedene Ausgaben berappt werden wie der Fitnesskurs, Anlässe wie ein Märchenabend oder ein Fest, das Putzen der Ferienwohnung und immer wieder Anschaffungen. Den Verwaltern dieses Topfes stehen pro Jahr rund 17`000.- Franken zur Verfügung.
Christa erzählt, wie die Leute die Hände verwerfen über die hohen Preise, zum Beispiel für einen Mixer. Darauf folgt der Beschluss, etwas Günstiges einzukaufen. Aber häufig sieht man nach vielen Schwierigkeiten ein, dass es sich lohnt, ein gutes und teureres Modell anzuschaffen.
Margrit liebt das Jäten. Kurze Zeit nach ihrem Einzug begann sie, einen Strauch von den ihn umschlingenden Winden zu befreien. Argwöhnisch wurde sie von NachbarInnen beäugt, die mit der unerhörten Nachricht an Christa gelangten. Nun galt es, die Frauen zu einem Gespräch zusammenzubringen, und siehe da, die Wogen glätteten sich!

Christa: «Viele Gespräche tragen dazu bei, dass sich das Wir – Gefühl langsam entwickelt. Hier geschieht sehr viel Integrationsarbeit. Hier wohnen Leute mit Herz. Hier werden Leute getragen, die sonst niemand trägt. Gutes Nebeneinander führt zum Miteinander.»
Tipps fürs Gelingen
Christas Prinzipien: Immer auf die aktuelle Situation eingehen, viele Gespräche führen, der Bildung von Gruppierungen vorbeugen, Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen. «Regeln sind gefährlich. Wo viele Regeln gelten, fühlen sich die Menschen dazu aufgerufen, Polizist zu spielen.»
Wer ein Mehrgenerationenprojekt verfolgt, sollte das Mehrgenerationenprinzip zuerst konsequent in der Trägerschaft und im Planungsteam umsetzen.
Für Projekte mit Gemeinwesenarbeit bräuchte es eine neue Art von Immobilienverwaltung und Hauswartung, die auch soziale Kompetenzen anbietet.
Christa Schönenberger spricht auch über Fehler, aus denen andere etwas lernen könnten:
Die Grundrisse der Familienwohnungen und Cluster sind für heutige Ansprüche nicht optimal. Die Küchen sind eher klein bemessen und verfügen über wenig Stauraum. Deshalb lassen sie sich nur schwer vermieten.
Es empfiehlt sich nicht, voll ausgebaute Wohnungen für Menschen mit Beeinträchtigung zu bauen. Nachrüstbare Logis sind sinnvoll.
Schlusswort von Christa:
«Wenn es hier gelingt, kann es in jedem Miethaus gelingen.»

Kommentare aus der Besucher:innengruppe
Ursula Tolonen: Das war eine sehr inspirierende Besichtigung. Es hat mir unter anderem gezeigt, wie wichtig es ist, dass schon bei der Planung einer Siedlung die Bedürfnisse der zukünftigen BewohnerInnen in den unterschiedlichen Altersgruppen und Lebenskontexten berücksichtigt werden. Auch das Gespräch mit den BewohnerInnen der Siedlung war sehr anregend und hat mir bestätigt, wie gut es ist Gemeinschaft zu pflegen.
Fritz Zurflüh: Für mich war die Bedeutung und die Art und Weise des SiedlungsCoachings beeindruckend: da sein, intervenieren und gleichzeitig viel Freiraum für Eigeninitiativen lassen. Das gibt den Bewohner:innen Sicherheit und engt sie trotzdem nicht ein.
Elisabeth Zellweger: Die Besichtigung und der Austausch mit den Bewohnerinnen der Wohnsiedlung war sehr spannend. Diese Mischform zwischen «normalem» Individualwohnen und genossenschaftlichem Gemeinschaftsleben erweitert die Vielfalt der Wohn-Möglichkeiten. Sie regt einmal mehr an, in sich zu gehen und nach den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen zu forschen. Von Christa die Rolle der Siedlungsmanagerin als Teil des Konzepts zu erleben und erklärt zu bekommen, fand ich total anregend.
Anja Isele: Der Einblick ins Zusammenleben und Zusammenwirken war spannend. Wie die Verbindung der externen Quartiersmanagerin mit den Bewohnenden gestaltet wird, ist eindrücklich. Auch die Offenheit darüber zu sprechen, was im Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen Interessen auch mal nicht so rauskommt, wie anfangs erhofft, war hilfreich. Und gleichzeitig davon zu lernen, was für ein gutes Zusammenleben hilft – und wenn es die gut einsehbaren, gut erreichbaren Gemeinschaftsräume in der Nähe des „Dorfplatzes“ sind, damit die Bewohnenden einfach und ohne grosse Hürden zusammenkommen können.
Elly Fischer: Christa Schönenberger gelingt es, Leute in Konfliktsituationen miteinander ins Gespräch zu bringen. Aus dem Kennenlernen ergibt sich eine gegenseitige Akzeptanz.
Tom Ammann: Das Siedlungsmanagement sollte nicht vor Ort leben und kann deshalb neutral agieren, wie Christa mehrmals betonte. Arbeitsgruppen nennen sich Teams; das gefällt mir. Mich interessiert am meisten, wie Christa der Grüppchenbildung konkret entgegenwirkt!