Małgorzata Szejnert leitete als Studentin 1956 den Kulturteil der Zeitschrift «Horyzonty», 1989 war sie Mitgründerin von «Gazeta Wyborcza», der ersten unabhängigen Zeitung in Polen; anschliessend leitete sie 15 Jahre lang das Ressort Reportage, das als Kaderschmiede dieses Genres in Polen gilt. Auf Deutsch sind ihre zwei Bücher erschienen: «Der schwarze Garten» und «Das Beet des Zoddiks»; demnächst erscheint «Insel Ellis».
Margrit Sprecher arbeitete für «Elle» und die «Weltwoche». Ihre Spezialität sind soziale Reportagen. «Sie ist genial im Alfamännchen-Vernichten» stellte der Chefredaktor des Magazins «Reportagen» und Moderator der Veranstaltung, Daniel Puntas Bernet, fest. Einige ihrer wichtigen Bücher sind: «Das Leben im Todestrakt», «Unsere Kampfpiloten» und «Irrland».
«Zwei Leben für die Reportage – Margrit Sprecher und Malgorzata Szejnert». Unter diesem Titel fand Anfang Oktober 2021 die Veranstaltung «Reportagen Live» im ONO Bern statt, im Rahmen der Zusammenarbeit des Polenvereins Winterthur mit dem Magazin «Reportagen» als Auftakt zum zweitägigen literarischen Festival «Haltestelle Polen» in Zürich . Ziel der Veranstaltung war es, einen Einblick in das immense Schaffen der beiden Frauen, die seit Jahrzehnten die Reportage in ihrem jeweiligen Land prägen, zu gewinnen.
Margrit Sprecher, Schweizerin, und Małgorzata Szejnert, Polin, beide 1936 geboren, sind vielfach ausgezeichnete Reporterinnen und Schriftstellerinnen. Heute sind zwar beide Frauen seit über 20 Jahren pensioniert, aber weiterhin mit Schreiben beschäftigt.
Einstieg in den Journalismus
Małgorzata Szejnert wollte als junge Frau die Welt bereisen. In den Fünfzigerjahren konnten in Polen ausschliesslich DiplomatInnen, Leute aus Regierungskreisen und SportjournalistInnen reisen. Also entschloss sich Małgorzata Szejnert, Sportjournalistin zu werden. Während ihres Studiums passierten in Polen wichtige politische Veränderungen, die nach 1956 zu einigen Freiheiten in der Presse führten. So entschied die junge Absolventin, doch keine Sport-, sondern eine «richtige» Journalistin zu werden. Zur Reportage gelangte sie nach Jahren im informativen Journalismus zahlreicher Redaktionen.
Margrit Sprecher wollte auch von Anfang an Journalistin werden. Doch ein Berufsberater schlug ihr diese Pläne aus dem Kopf, denn in ihrer Jugendzeit gab es Journalistinnen in der Schweiz einzig in den Frauenzeitschriften – also so gut wie keine. Er hat ihr geraten, die Dolmetscherschule zu besuchen und diese Ausbildung mit einem Stenografiekurs zu ergänzen. Danach könne sie ihre journalistische Neigung als Sekretärin eines Chefredaktors ausleben. Aus purer Verzweiflung lernte Margrit Sprecher das Dolmetschern. 1956 fing sie auf unterster Stufe des Journalismus bei einer Agentur zu arbeiten an. Sie musste täglich acht völlig uninteressante Artikel liefern und den Hund der Agenturbesitzerin ausführen. Sie war über diese Verpflichtung nicht entsetzt, weil sie nicht wusste, was sich in der beruflichen Praxis gehörte und was nicht.
Reportagen im Wandel der Zeit
Da politische Themen in den Zeitungen in Polen nicht behandelt werden durften, haben sich JournalistInnen sozialen Problemen gewidmet. Mitte der Fünfzigerjahre haben sie den so genannten «Kleinen Realismus» erfunden: Sie beschäftigten sich mit individuellen Problemen von Menschen, und aufgrund der einzelnen Schicksale zeigten sie das soziale Umfeld im Lande. Sie beschrieben Auswirkungen, ohne Ursachen zu benennen. So konnten sie die Zensur umgehen. Die Regierung erlaubte solche Inhalte als Ventil für gesellschaftliche Probleme. Die LeserInnen brauchten keine weiteren Erklärungen. Sie waren froh, dass die JournalistInnen sie im täglichen Kampf um würdige Lebensbedingungen begleiteten. Polen galt als «die lustigste Baracke im kommunistischen Lager». Das bedeutete, dass Dinge, an welche zum Beispiel in Rumänien oder der Tschechoslowakei gar nicht zu denken war, in Polen toleriert wurden.
In der Schweiz befand sich der Journalismus in der gleichen Zeit im Tiefschlaf. Die Zeitungen waren voll von vorverdauten Mitteilungen. Die Vereine durften alles veröffentlichen, aber es war kein Feuer in den Texten. Vor 1971 verstanden sich Margrit Sprecher und ihre Redaktionskolleginnen der Frauenzeitung «Elle» als Frauenstimmen des Landes. Deshalb kam der Sender BBC zu ihnen, um eine Reportage über Schweizer Frauenrechte aufzunehmen. Die «Elle»-Redakteurinnen profitierten von der Narrenfreiheit der Frauenzeitschrift. Als sie zum Beispiel zum Jungfernflug der Swissair nach Johannesburg eingeladen wurden, verfassten sie keinen blumigen Artikel über die schöne Reise nach Afrika, wie von ihnen erwartet wurde. Stattdessen schrieb Margrit Sprecher über den Swissair-Manager in Johannesburg, der alle seine männlichen Angestellten Joe und die weiblichen Mary nannte. So musste er sich keine neuen Namen merken.
Paradiesische Jahre der Reportage
Die späten Achtziger- und Neunzigerjahre waren ein Paradies für den Journalismus in der Schweiz. Vor allem der Journalist Niklaus Meienberg erfand Reportagen neu. Mit seinen kraftvollen Schilderungen beeinflusste er insbesondere junge JournalistInnen. Bald hat die halbe Schweiz «gemeienbergt». Margrit Sprecher gehörte nicht dazu. Sie hat über die Jahre ihren eigenen Stil entwickelt.
Der Journalismus der Neunzigerjahre in Polen konnte aus der reichen Tradition polnischer Reportagen ab Ende des 19. Jahrhunderts schöpfen.
Die Gegenwart
Wie sieht es heute um Reportagen aus? Wie können sich junge AutorInnen ein Beispiel an den erfahrenen Frauen nehmen? In der heutigen Schweizer Reportage vermisst Margrit Sprecher die persönliche Handschrift der VerfasserInnen. Die Reportagen gleichen sich im Aufbau an. Alles ist sehr solide, überschaubar und berechenbar konstruiert. Gäbe es mehr Skandale in der Schweiz, würde die Suche nach Themen zu guten Storys wohl leichter fallen.
Die polnische Reportage gedeiht auf der dramatischen Geschichte des Landes. JournalistInnen können nur begrenzt die Realität beeinflussen. Doch wenn LeserInnen durch journalistische Texte zu neuen Erkenntnissen gelangen und ihre individuellen Handlungen ändern, wird längerfristig auch die Wirklichkeit beeinflusst.
Nachwuchs-Journalistinnen reagieren
«Ich wurde als Volontärin gefördert.»
Corina Gall (29): Die Reportage gilt als die Königsdisziplin im Journalismus. Sie ermöglicht gleich mehrere Aspekte, die in der sonst hektischen täglichen Berichterstattung wenig zum Zug kommt: direkter Kontakt zu anderen Menschen, unmittelbare Eindrücke und richtige Einordung der Geschehnisse. Reportagen schreiben zu können gilt als Kür. Das eigene Büro zu verlassen und von anderen Orten und kulturellen Geschehnissen zu berichten ist eine willkommene Abwechslung im Redaktionsalltag. Ich hatte bereits zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn das Privileg dieser Kür. Im Praktikum beim Kulturressort der «Aargauer Zeitung» durfte ich für Rezensionen ins Kino gehen, an Proben und Premieren von Theateraufführungen sowie an Lesungen von neuen Büchern teilnehmen. Im Volontariat bei der «Neuen Zürcher Zeitung» hatte ich das Glück, gleich mehrere Auslandsreisen zu erleben. Auf diesen Ausflügen ins Theater oder in andere Länder begleitete mich eine grosse Neugier. Was mich dabei nicht begleitete: Hürden und Herausforderungen aufgrund meines Geschlechts. Jedenfalls keine, die mir aufgefallen wären. Diese guten Erfahrungen bedeuten aber keinesfalls, dass anderen Frauen keine Hindernisse in den Weg gelegt werden.
Während meines Volontariats bei der NZZ war ich an manchen Tagen die einzige Frau in den Ressortsitzungen. Ich hatte nie den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden oder weniger Möglichkeiten zu erhalten als männliche Kollegen. Im Gegenteil: Ich wurde als Volontärin gefördert und erhielt etliche Gelegenheiten, wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Mittlerweile bin ich zurück auf der Redaktion, die Anzahl Frauen hat sich seit damals vervielfacht. Diese Frauen sitzen keineswegs auf der Redaktion fest, sondern beweisen tagtäglich, dass das Geschlecht keine Rolle spielt. Natürlich gibt es Reportagen, bei denen die Stellung der Frau ausschlaggebend ist. Da geschieht die Unterscheidung aber nicht auf der Redaktion, sondern bei den Menschen, über die man schreibt. Einerseits haben Frauen oft einfachen Zugang zu Frauen, die Gewalt erlebten, andererseits haben Männer leicht Zugang zu Gesellschaften, in denen ein anderes Rollenverständnis vorherrscht und Frauen normalerweise keine Journalistinnen sind. Trotzdem berichten heute talentierte junge Frauen aus Kriegsgebieten im Nahen Osten und begabte junge Männer über den Frauenstreik. Der Journalismus kann davon nur profitieren. Diese Thematik geht heute über eine reine Mann/Frau-Debatte hinaus.
Noch immer gibt es den Durchschnittsjournalisten
Miriam Weber (22): Seit drei Semestern studiere ich Journalismus und Organisationskommunikation an der ZHAW. Ich wünschte, ich könnte von einer geschlechtergerechten Medienbranche schreiben. Letztens haben wir uns in der Journalistik-Vorlesung die Demografie der Schweizer Medienwelt angeschaut. Das Fazit: Der durchschnittliche Schweizer Journalist ist männlich und der Frauenanteil liegt bei knapp 40 Prozent. Klingt zwar gar nicht so schlecht, aber Frauen sind bei den tiefen Lohnklassen immer noch übervertreten und bei den hohen Lohnklassen untervertreten. Diese Daten stammen aus einer Forschung, welche Dozenten der ZHAW vor sechs Jahren durchgeführt haben. Ob sich bereits etwas zum Positiven verändert hat? Ein Blick aus dem Vorlesungssaal ins Berufsleben zeigt ein ähnliches Bild. Vor Kurzem bekam ich eine Mail meines früheren Arbeitgebers zum Thema «Gendergerechte Sprache». Es enthielt einen Leitfaden, der festhielt, wie zukünftig gegendert werden soll. Nebst dem Vermerk, dass besser auf die Sprache geschaut werden muss, gab es die Forderungen, dass die Verständlichkeit an erster Stelle stehen, kein Genderstern und kein Doppelpunkt geschrieben werden soll. Unterzeichnet wurde die Mail von acht Männern. Ein Blick in die Organigramme der Schweizer Medienhäuser widerspiegelt diese Männerdominanz. Frauen sind in der Chefetage stark untervertreten. Sie fehlen in vielen Entscheidungsprozessen. Es wäre falsch zu behaupten, dass es keinen Fortschritt gegeben hat. Ich bin froh, dass mein Start in die Journalistenwelt einfacher war als derjenige von Margrit Sprecher und Małgorzata Szejnert. Es ist nicht verkehrt, heute mehr Gleichstellung zu verlangen. Darum tue ich es weiterhin.