Für Margot Hansjakob Haldemann (66) ist das Leben wie eine Murmelbahn. Wenn alles gut läuft, rollen kleine Glaskugeln durch verschiedenste Landschaften; über Wiesen und Gewässer und sogar durch Berge. Manchmal ist ein Berg aber mit grauer Watte verstopft und eine Murmel bleibt darin stecken. Dann geht nichts mehr. Margot Hansjakob Haldemann fühlt sich in diesen Situationen hilflos, das Leben macht ihr keine Freude mehr und sie ist überzeugt, sie wird für immer in dieser grauen Watte stecken bleiben. Das ist ihre Depression.
In der kleinen Wohnung ist es hell und gemütlich. Die Herzlichkeit, mit der ich empfangen werde, lässt mich das graue, nasse Wetter vergessen. Margot erzählt mir von ihrer ehemaligen Arbeit als Sozialpädagogin und Bewährungshelferin und ihrer Familie. Sie hat drei Kinder und einen Ehemann, von welchem sie sich nach 21 Jahren Ehe scheiden liess, den sie später aber wieder heiratete. Sie erzählt mir auch von ihrer Muskelkrankheit, die ihre Oberschenkel und Arme schwächt, die aber keinen Namen hat. Weil ihr bei grosser Anstrengung die Knie einbrechen, geht sie am Rollator.
Mehr als nur eine Verstimmung
Ihre offene, lebhafte Art und die Aufrichtigkeit, mit der Margot ihre Lebensgeschichte schildert, hängen mit ihrer Mission zusammen: offen über Depressionen zu sprechen und Vorurteile zu beseitigen. «Das ist mir wichtig, denn ich sehe, dass so viele Leute leiden und keine Hilfe in Anspruch nehmen», offenbart sie mir. Sie selber hatte über dreissig Jahre lang phasenweise mit dieser Krankheit zu kämpfen.
«Eigentlich müsste ich jetzt überglücklich sein, aber in
mir ist es wie tot.»
Depressive Menschen verlieren das Interesse und die Freude an Tätigkeiten und Dingen, die sie eigentlich gerne mögen. Manche sind antriebslos und ermüden schnell, andere erleben vermehrt Angstzustände, entwickeln grundlos Schuldgefühle oder leiden an Schlaf- und Denkstörungen. Auch körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen gehören zum Krankheitsbild. Damit es sich tatsächlich um eine Erkrankung und nicht bloss um eine kurzfristige Verstimmung handelt, müssen die
Symptome mindestens zwei Wochen lang vorherrschend sein.
«Ich müsste glücklich sein»
Margot erinnert sich an eine Szene aus einer depressiven Phase, als sie bei einem Abendessen mit FreundInnen plötzlich innehielt und dachte: «Ich bin von guten Menschen umgeben. Ich arbeite in meinem Traumjob. Ich habe eine gute Lebenssituation, eine tolle Familie, drei Kinder, die ich wahnsinnig gerne habe. Eigentlich müsste ich jetzt überglücklich sein, aber in mir ist es wie tot. Ich lache über Witze, aber glaube mir dieses Lachen selber nicht. Ich spüre nichts.» In dieser Zeit hatte sie kaum Antrieb und brauchte enorme Überwindung, um morgens aus dem Bett zu steigen. In ihren schlimmsten Stunden, als sie keinen Ausweg aus ihrer Depression sah, hatte sie Suizidgedanken.
Die Ursachen für eine Erkrankung sind vielfältig. Eine Depression wird unter anderem durch eine Nervenstoffwechselstörung im Gehirn verursacht. Auslöser ist die dauerhafte Ausschüttung von Stresshormonen. Die chemischen Prozesse können durch äussere Risikofaktoren angestossen werden. Dazu gehören beispielsweise einschneidende Lebensereignisse wie die Trauer um eine nahestehende Person oder Stress im frühkindlichen Alter.
Medikamente und Psychotherapie
Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Etwa 17 Prozent der Menschen in der Schweiz erleben mindestens einmal in ihrem Leben eine depressive Störung, wobei Frauen öfters betroffen sind als Männer. Margot ist überzeugt, dass die Dunkelziffer viel höher ist. Sie erhielt ihre Diagnose mit 27 Jahren. Ihr Hausarzt erkannte die Symptome, verschrieb ein mildes Antidepressivum und riet ihr, einen Psychiater aufzusuchen. Er wusste, was Margot in den nächsten Jahrzehnten lernen würde: Medikamente alleine reichen nicht aus, es braucht eine zusätzliche Psychotherapie. «Wie man mit einer Depression umgeht, ist ein Lernprozess.
Durch die Therapie habe ich gelernt, auf meinen Körper zu hören und eine vorübergehende Verstimmung vom Beginn einer Depression zu unterscheiden. Ich weiss jetzt, was ich in diesen Situationen brauche und was mir schadet». Auch ihr Mann hat gelernt, Margots Depression zu erkennen und sie bei der Heilung zu unterstützen. Der Beistand ihres Mannes und die Unterstützung ihres ganzen Umfelds haben erheblich dazu beigetragen, dass es Margot heute wieder gut geht.
Sie würde aber nicht zögern, wenn nötig wieder einen Psychiater aufzusuchen. Deshalb lautet ihre Botschaft an alle, die bei sich Anzeichen einer Depression erkennen: «Sucht euch Hilfe und nehmt diese in Anspruch, es lohnt sich! Ihr müsst euch aber wirklich darauf einlassen und den Fachleuten vertrauen. Der Weg geht zunächst über euren Hausarzt, der euch überweist.»
Qualität trotz Einschränkungen
Margot geht es zurzeit blendend und sie nimmt seit Jahren keine Antidepressiva mehr. Was «krank sein» oder «gesund sein» für sie bedeutet, hat sie sich nie überlegt. Sie stellt sich eine andere Frage: «Wie komme ich trotz meinen zwei sehr unterschiedlichen Krankheiten zu möglichst viel Lebensqualität?» Vor zwei Jahren hat sie begonnen, Schwyzerörgeli zu spielen. Sie geniesst den Kontakt zu verschiedenen Menschen. Auch das Vorbereiten von Radiobeiträgen für ihren Verein «radio60plus» oder das Gestalten der Website bereitet ihr Freude.
Heute rollen Margots Murmeln wieder durch verschiedene Landschaften. Selten bleibt eine kurz in einem Berg stecken. Meistens führen ihre Bahnen aber über grüne Wiesen und glitzernde Seen, manchmal auch übers Meer. Dann, so stellt sie sich vor, wenn die Glaskugeln über das vibrierende Wasser rollen, entsteht ein heller, wohltuender Klang. Dieser Klang macht sie glücklich.