Leben retten – wir begeben uns auf eine Zeitreise mit dem Lebensretter Daniel Harder
Neue Aula, Gymnasium Thun – Standort Seefeld (Äussere Ringstrasse 7)
Daniel Harder erzählt zusammen mit seiner Mutter, wie er die Fahrten im Krankenwagen des Vaters erlebte, und wie er später selbst als Rettungssanitäter mit der Rega Verunfallte aus Schluchten rettete. Weitere Informationen.
«Suchen Sie sich einen Traum aus», sagt Daniel Harder zur Patientin, während er mit dem Sauerstoffschlauch hinter ihrem Kopf steht. Die ärztliche Kollegin steht mit den Medikamenten bereit. Dabei ist die Patientin gerade erst aufgestanden – es ist halb acht morgens. Schwer vorstellbar, sich unter diesen Umständen in Ruhe einen Traum auszusuchen. Doch die Szene ist weniger hektisch, als sie klingt.
Daniel Harder, Narkosepfleger im Spital Interlaken, strahlt höchste Ruhe aus. Für die Patientin ist es ein schwieriger und belastender Tag, ihr wird in einer zweistündigen Operation die Gebärmutter entfernt. Für Daniel Harder handelt es sich um einen routinemässigen Arbeitstag. «Zwischen Stress und Routine eine gesunde Balance zu finden ist ein wichtiger Teil unseres Berufs», sagt Daniel Harder. Die Ärzte im Operationssaal sind bereit, die Anästhesieärztin spritzt der Patientin die Narkosemittel und der zuvor ausgesuchte Traum kann beginnen.
Begeistert fürs Blaulicht
Leben retten, ängstliche PatientInnen beruhigen – Harder wurden diese Fähigkeiten in die Wiege gelegt. Daniel Harders Vater war Freiwilliger in der Feuerwehr und Samariter-Instruktor im Militär. 1952 kritisierte er, dass Kranke durch die Dorfschwester mit einem Karren von Hand ins Spital geschoben werden müssten. Der Vater erhielt daraufhin eine Bahre für das Feuerwehrauto und startete den ersten Krankentransport der Region Wynenthal im Aargau.
Ein paar Jahre später erhielt er einen einfachen VW-Bus als Krankenwagen. In dieser Zeit wurde Daniel Harder als jüngster von vier Brüdern geboren. Das Heim der Familie Harder wurde zur 24 Stunden-Notrufzentrale. Telefon gab es im Haus nur eines: Es hatte eine grosse Glocke, stand im Gang und wurde von der ganzen Familie benutzt. Mal war ein Klassenkamerad dran, mal eine Verwandte, oder das Krankenhaus mit einem medizinischen Notfall. Gleichzeitig betrieb die Familie zu Hause eine chemische Reinigung und Kleiderfärberei.
«Bei mir machte sich eine Kerosinsucht bemerkbar.»
Daniel Harder verstand damals noch nicht, weshalb sein «Papsli», wie er seinen Vater nannte, nach gewissen Telefonanrufen fluchtartig das Haus verliess. Ihn interessierte ausschliesslich das Blaulicht, welches er heimlich ab und zu einschaltete. 1963 machte auch die Mutter den Führerschein und übernahm einen Teil der Transporte. Harder ist sich sicher: «Meine Mutter war die erste Krankenwagenfahrerin der Schweiz».
Als Kind rannte er vor das Haus, um den Krankenwagen vorbeibrausen zu sehen. Seinen ersten Einsatz durfte er mit 12 Jahren leisten – nur um die Sirene zu bedienen. Seine erste eigene Fahrt unternahm er, bevor er überhaupt den Führerschein besass. Nach seiner Ausbildung zum Psychiatriepfleger zog es ihn der Liebe wegen ins Berner Oberland.
In Interlaken wurde er auf die Helikopter aufmerksam, die ab und zu beim Spital landeten. «Bei mir machte sich eine Kerosinsucht bemerkbar», sagt Harder. Durch einen Zufall begann er an Ostern 1979 Rettungseinsätze mit der damaligen Rettungsflugwacht, der späteren REGA, zu begleiten. 15 Jahre tat er dies in der Funktion des Arztes. «Aus heutiger Sicht hätte ich diese Verantwortung nicht übernehmen dürfen», sagt Harder rückblickend.
Harder durfte, da er kein Arzt war, verunfallte oder akut erkrankte Menschen nicht für tot erklären. Bis zur Ankunft im Krankenhaus musste er um ihr Leben kämpfen, obwohl er sich der Aussichtslosigkeit bewusst war. Seine schwierigste Entscheidung habe er fällen müssen, als die Eltern eines schwer verletzten Mädchens ihn fragten, ob er der Arzt sei: «Ich musste lügen.» An manchen Tagen fungierte die Crew und der Helikopter als Transportdienstleister für Bauunternehmen. Kam ein Notfall rein, mussten Bauelemente für ein paar Stunden liegengelassen werden. Eine Helikopterbasis nur für Rettungseinsätze gab es damals nicht.
In den zwei Jahrzehnten bei der REGA stiess Harder regelmässig an seine Grenzen. Besonders in Erinnerung bleibt ihm der Einsatz, als er eine Frau aus einer Schlucht bergen musste. Dabei stürzte Harder beinahe ab. In diesen aufregenden und aufwühlenden Jahren verlor er mehrere Kollegen bei Helikopter-Einsätzen. «Wir müssen lernen, dass alles, was passiert, einen Grund hat. Nur sehen wir das nicht», sagt Harder. Nach 21 Jahren bei der Luftrettung entschied er sich, zukünftig am Boden zu bleiben.
«Ich bin ein Chauffeur»
Harder fliegt nicht mehr. Doch auch heute treibt ihn das Surren der Helikopterpropeller ab und zu nachts aus dem Bett. Die ganze Harder-Familie, wie er es selbst beschreibt, besitzt das Helfersyndrom. «Wir sind sehr christlich aufgewachsen.» In der Familie galt es schon immer als selbstverständlich, zu jeder Tages- und Nachtzeit rauszugehen, um anderen zu helfen. «Ich kann nicht nein sagen», gesteht er. Dieses Merkmal hat Harder an seine Kinder weitergegeben, und damit auch die Begeisterung für medizinische Berufe.
Auch die Operation an diesem frühen Novembertag im Spital Interlaken ist eine Familienangelegenheit: Sein Bruder Manfred ist der leitende Arzt im Saal. Während er in Feinstarbeit die Gebärmutter entfernt, überwacht Daniel Harder die Patientin und die Narkosegeräte. Zwischendurch berührt er die Patientin am Hals, um ihre Temperatur zu überprüfen. «Für mich kommt immer der Mensch zuerst. Auch heute messe ich den Puls oft noch von Hand».
Vor allem wegen der zunehmenden Zahl an Geräten stellt Harder fest, dass sich medizinische Berufe über die Jahre verändert haben. Die vielen Geräte hätten sich allmählich zwischen PflegerIn und PatientIn gestellt. «Dafür haben diese technischen Erneuerungen die Sicherheit erhöht.» Wenn er nach seinem Beruf gefragt wird, sagt er: «Ich bin ein Chauffeur. Ich chauffiere Patienten durch die Narkose und damit durch die Operation.»
Harder half die Religion, um mit Extremsituationen klarzukommen. «Bei einer Meldung, in der es um Leben und Tod geht, gerätst du unter Druck», sagt Harder. Und auch wenn er gelernt hat, damit umzugehen, hat er bei Einsätzen jeweils ein Stossgebet zum Himmel geschickt. «Damit bin ich ganz gut gefahren». Daniel Harder ist ein Pragmatiker.
Harder betreut seit seinem Schulabschluss bis zum heutigen Tag erkrankte und verunfallte Menschen und begleitet seit über 36 Jahren
PatientInnen in den Narkoseschlaf. Die Begeisterung für seinen Beruf ist vor allem dann offensichtlich, wenn er die Patienten im Vorbereitungssaal vor dem OP empfängt. Und wenn er sie wieder aus dem Schlaf holt, um ihnen mitzuteilen, dass alles gut verlaufen sei.
Vor einiger Zeit sprach ihn in einem Restaurant eine Frau an. Sie erkannte Harder an seiner Stimme: Er war es, der sie wenige Monate zuvor in die Narkose begleitet hatte. Harder schafft es noch immer, dass sich die PatientInnen trotz Routine und Alltagsstress wohl fühlen. «Würde ich den PatientInnen spüren lassen, wenn ich einmal wütend bin, wäre das fatal», ist Harder überzeugt. Die zweistündige Operation an diesem Morgen ist vorbei und Harder begleitet seine Patientin noch bis in den Aufwachraum. Im Vorbereitungssaal wartet bereits ein neuer Patient.
Veranstaltung mit Daniel Harder. 22.1., 19 Uhr, Neue Aula Gymnasium Thun, Standort Seefeld. www.und.gt/lebenretten