Integral entscheiden
Werner Kaiser: In der Schule lernten wir perspektivisch zeichnen. Sie erinnern sich: Das ganze Bild wird von einem Punkt her gezeichnet, dem sogenannten Fluchtpunkt. So verläuft oft auch unser Denken. Wir sehen einen komplexen Zusammenhang aus einer einzigen Perspektive. So war aus unserer Perspektive Trump ein schlechter Präsident. Er stellte sich in den Vordergrund, statt das Wohl des ganzen Landes zu fördern. Seine Anhänger sehen ihn jedoch ganz anders: als Kämpfer gegen das Establishment zugunsten der einfachen Leute. Die Perspektive kann entscheidend sein.
Jean Gebser (1905-1973) war ein Kulturphilosoph aus Wabern bei Bern. Er fand, wir könnten jetzt aufhören, die Welt aus einer einzigen Perspektive anzuschauen. Das sei die Spezialität der letzten Jahrhunderte gewesen. Heute hätten wir die Fähigkeit, Dinge «a-perspektivisch», also unabhängig von Perspektiven, ganzheitlich zu betrachten und ihnen so besser gerecht zu werden. Sie schauen zum Beispiel einen Apfel an. Ist er faul? Nein, sagen Sie, weil Sie ihn nur von vorne und damit aus einer Perspektive sehen. Aus der Gegenperspektive gesehen kann er aber faul sein.
In der Regel denken wir, zwei entgegengesetzte Aussagen seien unvereinbar. Man könne nicht gleichzeitig mutig und vorsichtig sein. Anders sieht es Friedemann Schulz von Thun, der Autor des Buches «Miteinander reden». Mut und Vorsicht können beide richtig sein. Sie brauchen einander sogar, denn wenn einer der Werte fehlt, verkommt der andere. So führt Mut ohne Vorsicht zu Waghalsigkeit, und Vorsicht ohne Mut zu Feigheit. Nicht A oder B, sondern A und B, in guter Balance, ist gefragt.
In diesen Beispielen ging es immer darum, die eigene Perspektive um eine zweite Sicht zu erweitern. Doch A-perspektivität, wie Gebser sie verstand, wäre mehr. Überhaupt aufhören, in Perspektiven zu denken. Den Blick umfassend auf die ganzen Zusammenhänge richten. Kleinliche Interessen, Clandenken, Nationalismus zurückstecken hinter dem Ziel, dem Ganzen zu dienen. Selbstverständlich? Wenn ich das politische Geschehen anschaue, sehe ich noch Entwicklungsbedarf.
Noch etwas gehört zu einer integralen Entscheidung. Es geht nicht nur darum, integral zu denken, sondern dies auch als ganzer, eben integraler Mensch zu tun. Der integral lebende Mensch entscheidet aus seiner ganzen Person heraus. Er fragt, was sein Körper sagt, seine Gefühle, sein Verstand und vor allem auch seine Intuition. Nachdem er die Frage möglichst aus allen Perspektiven angeschaut hat, hört er still in sich hinein: Was regt sich in meinem Körper? Was fühle ich? Was fällt mir zum Entscheid einfach so ein? So entscheidet er als ganzer Mensch aus ganzheitlicher Sicht.
Tetralemma: eine Coaching-Methode zur Entscheidungsfindung
Barbara Rüetschi: Eine Methode, die das Denken aus verschiedenen Sichtweisen fördert, ist das Tetralemma. Ursprünglich ein System aus der indischen Logik, haben Insaa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd dieses Tool für die systemische Beratung entwickelt. Es leitet mit gezielten Fragen dazu an, aus dem Dilemma eines «Entweder-Oder» herauszukommen, weitere Sichtweisen zu entwickeln und damit das Querdenken zu fördern.
Die fünf Positionen (siehe Abbildung) werden nacheinander bearbeitet und als Aufstellung im Raum sichtbar gemacht, d.h. die Person nimmt die entsprechenden Positionen im Raum ein, sodass diese bildlich sichtbar und erlebbar werden.
Ein Anwendungsbeispiel aus der Praxis:
Ein Heilpädagoge, knapp über 50-jährig, ist seit längerem unzufrieden an seiner Arbeitsstelle und er fragt sich, ob er kündigen soll. «Das eine» (Position 1), die Kündigung, scheint ihm das Naheliegendste. Er wünscht sich, aus dem Gewohnten auszusteigen und träumt manchmal davon, etwas komplett Neues zu wagen und beispielsweise in einem Start-up mitzuarbeiten. Für «das andere» (Position 2), also an der aktuellen Arbeitsstelle zu verbleiben, sprechen sein Sicherheitsbedürfnis sowie seine bisherigen beruflichen Erfahrungen, die er ausschliesslich im schulischen Umfeld gesammelt hat. An der jetzigen Stelle hat er sich zudem eine Position erarbeitet, die ihm viele Freiheiten ermöglicht und er pflegt gute persönliche Beziehungen zu seinen KollegInnen.
Auf die Frage nach einer Möglichkeit, diese Positionen unter «beidem» zu verbinden, kommt er nach einigem Grübeln auf die Idee, das Pensum an der Schule zu reduzieren, was für ihn finanziell verkraftbar ist. Dadurch kann er sich Freiräume verschaffen, um seine vagen Wunschträume nach etwas ganz Neuem zu konkretisieren und beispielsweise neue Kontakte zu knüpfen. Bei «weder-noch» (Position 4) kommt er auf die Idee, sich als heilpädagogischer Berater für Schulen selbständig zu machen. Oder er könnte sich für ein Jahr beurlauben lassen, um eine längere Reise zu unternehmen. Manchmal waren ihm schon Zweifel gekommen, ob er nicht vielleicht einfach ausgebrannt sei und dringend Erholung benötige und vor allem deshalb mit seiner aktuellen Arbeitssituation unzufrieden war.
Als letztes («nichts von alledem») entwickelt er nochmals eine ganz neue Idee und sieht sich als Klavierlehrer: Seit vielen Jahren spielt er leidenschaftlich Piano und eine Tätigkeit im musikalischen Umfeld stellt etwas ganz Anderes und bisher gar nicht Bedachtes dar.
Im Rückblick auf den Prozess erzählt der Heilpädagoge, dass bereits bei der Position drei viel Druck von ihm abgefallen ist: Als er realisiert, dass ihm durchaus einige, auch ganz neue berufliche Möglichkeiten offenstehen und er nicht an der bisherigen Stelle verbleiben muss, löst dies einen Energieschub aus, sodass er ins Handeln kommen und nächste Schritte einleiten kann.
Unsere Diskussion
Unser Austausch verläuft ganz angeregt. Wir entdecken viele Gemeinsamkeiten zwischen den zwei Ansätzen. Beide ermöglichen das Denken aus verschiedenen Perspektiven, fördern explizit das kreative Gestalten auch ganz neuer Sichtweisen und Lösungen. Und es wird deutlich, dass es keine «absolute» Wahrheit gibt.
Das Tetralemma als konkrete Methode liefert eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zu den einzelnen Positionen. Dies kann in einer Beratung und damit im Dialog, aber auch alleine gemacht werden. Integral meint dagegen eine Grundhaltung. Werner erzählt, dass er sie in seinem Denken verinnerlicht hat: «Ich habe mir angewöhnt, bei allen Behauptungen sofort die entgegengesetzte Sicht zu sehen. Wenn mein Gesprächspartner sich ereifert über hohe Steuern, überlege ich mir gleich, dass wir doch genügend Steuern brauchen, um unser Gesundheitsnetz zu bezahlen oder umgekehrt. Wenn ich in den Nachrichten kritische Aussagen über China höre, geht meine Aufmerksamkeit automatisch zur Frage, wie das wohl die Chinesen sehen. »
Barbara verweist hier darauf, dass ein solches Denken anspruchsvoll ist und es längst nicht allen Menschen gelingt, sich in die Sichtweisen anderer Menschen hineinzuversetzen. Nach dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget ist der Mensch erst ab dem Alter von 12 Jahren in der Lage, einen solchen Perspektivenwechsel vorzunehmen – und gewisse Menschen lernen dies vielleicht nie.
Als wichtige Grundvoraussetzung sehen wir für beide Ansätze, dass es eine offene Haltung braucht, andere Meinungen und Sichtweisen zuzulassen und zu akzeptieren. Dies ist letztlich auch eine Frage der persönlichen Haltung respektive der eigenen inneren Sicherheit, andere Sichtweisen neben unserer eigenen zuzulassen und sie nicht als Bedrohung aufzufassen.
Werner kommt noch auf eine grundsätzliche Schwierigkeit zu sprechen: «Wenn ich mir zum Ziel setze, die Situationen aus möglichst allen Perspektiven zu betrachten, wird es manchmal so komplex, dass ich nicht mehr zum Entscheiden und zum Handeln komme. Es gibt offenbar Fälle, in denen gleich gehandelt werden muss, auch wenn die Kenntnis noch einseitig ist. Der Feuerwehr-Chef kann nicht philosophieren, wenn das Haus brennt. Oft bewährt sich hier ein Handeln aus der Intuition. »
Eine solche Intuition, in Notlagen rasch reagieren zu können, entsteht durch Übung. Und wir fragen uns entsprechend, wie wir alle ein bisschen integraler oder «tetralemmischer» denken lernen könnten. Unsere Welt würde wohl vielseitiger, farbiger, lebendiger.