Du sitzt im Bus und hörst auf deinen Kopfhörern deine Lieblingsmusik. Da spricht dich plötzlich eine alte Frau an… Erfinde eine Kurzgeschichte zu dieser Situation.
Mitwirken von Joy (15)
Joy schreibt:
«Entschuldigung, darf ich dich etwas fragen?» Verwundert schaue ich die alte Dame an, stelle die Musik ab und nehme die Kopfhörer aus den Ohren. «Ja klar», antworte ich lächelnd. «Ich muss bei der übernächsten Station raus und brauche Hilfe, meine Einkäufe nach Hause zu tragen. Weisst du, mit meinem Rücken geht das einfach nicht mehr». «Klar helfe ich Ihnen, aber wo wohnen Sie denn?» Die alte Dame lächelt traurig: «Ich wohne in einem kleinen Haus, auf dem Hügel dort. Vor Jahren haben mein Mann, der leider viel zu früh gehen musste, und ich das Haus gekauft und eine wunderbare Zeit verbracht.» Sie beginnt aus ihrem Leben zu erzählen und stellt sich als Ester vor. Dann kommt auch schon die Bushaltestelle, wo sie raus muss. Ich nehme ihre Einkäufe und laufe mit Ester den Hügel bis zu ihrem kleinen Haus hoch. Den ganzen Weg reden wir zusammen und erzählen beide von unserem Leben. Als wir nach circa 15 Minuten oben ankommen, fragt mich Ester: «Vielen Dank für deine Hilfe, Joy! Willst du nicht noch reinkommen und wir reden bei Kaffee und Kuchen weiter?» Erfreut über ihr Angebot verbringe ich noch zwei Stunden bei Ester. Danach muss ich leider gehen, weil ich noch etwas los habe, aber ich verspreche ihr, dass ich sie wieder besuchen kommen werde. Wir tauchen die Nummern aus und vereinbaren einen neuen Termin. Und so entsteht aus einer kurzen Begegnung eine lange und spannende Freundschaft.
Charlottes Antwort:
Liebe Joy
Ob ich wohl den Mut gehabt hätte, Joy anzusprechen? Es wird so oft über «die Jungen» geschimpft. Sie seien unhöflich und egoistisch. Aber wenn ich ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass ich noch nie schlechte Erfahrungen mit jungen Menschen gemacht habe. Deshalb würde ich gerne wissen, was die beiden einander wohl erzählt haben.
Vielleicht hat Esther Joy von ihrer grossen Trauer um den verstorbenen Partner erzählt, vielleicht auch von der Einsamkeit in dem kleinen Haus. Aber bestimmt hat sie auch erzählt, wie das Leben in ihrer Jugend war. Es war damals alles ja ganz anders als heute. Viel überschaubarer. Nachrichten gab es einmal am Tag, um 12 Uhr 30 von Radio Beromünster. Da erfuhr man das Wichtigste aus der Welt der Politik. In der Tageszeitung gab es die Rubrik „Unglücksfälle und Verbrechen“, die man mit Schaudern las. Die meisten Meldungen stammten aber gottlob aus dem Ausland. Man absolvierte die Schule, danach eine Lehre oder ein Studium. Den erlernten Beruf übte man dann meistens bis zur Pensionierung aus. Und zur richtigen Zeit wurde eine Familie gegründet; alles war vorgezeichnet und es war schwierig, aus diesem vorgegebenen Muster auszubrechen. Man wusste, was sich gehört und was nicht, und wer rebellierte, kam meistens irgendwie unter die Räder. Doch Esther erzählte auch von den Träumen, die sie als junges Mädchen hatte. Wie gerne hätte sie Musik studiert oder Theater gespielt. Aber in den Augen ihrer Eltern waren das brotlose Berufe und so blieben diese Träume eben nur Träume. Dafür wurde sie eine gute Buchhändlerin und heiratete den Mann, den sie liebte. Sie waren bis zu seinem Tod ein gutes Team und hatten ein ausgefülltes, schönes Leben.
Als Esther an diesem Tag nach dem Einkaufen den Bus nahm, war sie müde und ihr Rücken schmerzte sie noch mehr als sonst. Da fasste sie sich ein Herz, und bat das nette Mädchen mit den Kopfhörern ihr die schwere Tasche nach Hause zu tragen.
Auch Joy erzählte von sich, von ihren Freundinnen und Freunden, von der Schule und von ihrem ersten Freund. Sie stellte fest, das Leben sei manchmal wirklich kompliziert, und sie wisse überhaupt noch nicht, was sie für einen Beruf ergreifen solle. Dauernd werde sie gefragt, was sie denn einmal werden möchte. Aber es gebe so viele Möglichkeiten, so manches würde sie interessieren, und es sei richtig schwierig, sich zu entscheiden. Ihre Eltern seinen im Moment auch keine richtige Hilfe für sie, denn sie hätten ein eigenes Geschäft, und das sei in der heutigen Zeit nicht immer so einfach. Und plötzlich sagte Joy: „Es ist so schön, dass du Zeit hast, um mir zuzuhören! Darf ich wieder kommen?“ – Ich stelle mir vor, dass Esther und Joy nun ab und zu einen Nachmittag zusammen verbringen werden, um über alles was sie bewegt zu diskutieren. Sie werden viel voneinander lernen, sie werden oft zusammen lachen und manchmal auch zusammen traurig sein.
Liebe Grüsse Charlotte
SchülerInnen schreiben – SeniorInnen antworten
Wie stellen sich SchülerInnen ihr Leben mit 70 Jahren vor? Lesen Sie hier alle Dialoge zwischen SchülerInnen und SeniorInnen. Zwei Klassen aus der Oberstufenschule Progymatte haben Texte geschrieben, die ältere UND AutorInnen beantworten.