Privilegiert zu sein, selbst entscheiden zu dürfen
Wenn es in der Beziehung keine gemeinsame Entscheidung gibt, dann muss die Mutter eine treffen, und das kann tatsächlich nur die Frau. Sie entscheidet, was mit ihrem Körper passiert. Dennoch scheint dies sehr viele Männer zu beschäftigen und kann Gefühle der Ohnmacht auslösen. Die Frau entscheidet, ob der Mann Vater wird oder nicht. Sie bestimmt für ihn. Das fühlt sich nicht fair an. Sein Leben verändert sich von einem Tag auf den anderen, ohne dass er diese Entscheidung beeinflussen kann.
Bei den meisten Paaren überwiegt die gemeinsam getroffene Entscheidung. Beziehungen gehen kaputt, wenn sie sich absolut keine Kinder vorstellen kann und er sich ein Leben mit einer Familie vorstellt. Sollte somit die Kinderfrage schon vor dem ersten Sex geklärt werden? Oder am besten schon bei der Partnersuche, jedoch noch nicht beim ersten Date? Damit am Ende keine bösen Überraschungen kommen? Doch was ist, wenn man sich anlügt? Wenn sie schwanger wird, obwohl sie gesagt hat, dass sie die Antibabypille nimmt?
Viele schwierige Entscheidungen, die das Leben massiv verändern. Mutter zu werden, lässt viele Frauen ihre berufliche Karriere aufgeben. Das führt zu niedrigeren Renten im Alter. Sie verpflichten sich, bis zum 18. Altersjahr für das Kind zu sorgen. Wenn Männer also 50 Prozent bei der Entscheidung haben wollten, müssten sie dann auch 50 Prozent der Betreuung der Kinder übernehmen? Zum Glück wird heute immer mehr getan für die Betreuung von Kindern, so dass Frauen und Männer im Erwerbsleben bleiben können. Doch kann es für Eltern schwierig werden, nach der Elternzeit wieder den alten Arbeitsplatz zu bekommen. Hier wäre etwas mehr Flexibilität des Arbeitsgebers wünschenswert.
Möchte ich Kinder bekommen?
In meinem Freundeskreis entstehen schon die ersten Familien. Ich arbeite zusammen mit Familienvätern. Doch möchte ich selbst Kinder bekommen? Manchmal denke ich, dass wäre doch was Schönes. Und dann kommt mir wieder in den Sinn, dass ich schon so eine grosse Chaotin bin. Und möchte ich meine Freiheit und mein selbstbestimmtes Leben beeinträchtigen durch die Verantwortung, die Kinder halt mit sich bringen? Mir persönlich ist momentan wichtiger, dass ich machen kann, was ich will. Für Kinder müsste ich sehr viel zurückstecken, auch finanziell. Bin ich bereit dafür? Auf so viel zu verzichten? Und dann für was? Für die Freude, ein Kind aufwachsen zu sehen? Durch schlechte und gute Zeiten zu gehen? Könnte ich dann immer noch so viel Freiwilligenarbeit leisten? Müsste ich mich dann nicht irgendwo mehr zurücknehmen?
«Mutter zu werden, lässt viele Frauen ihre berufliche Karriere aufgeben.»
Tabea Arnold
So viele Fragen tauchen auf, wenn ich an die Kinderfrage denke. Wie viele Eltern bereuen, dass sie Kinder bekommen haben? Wie viele Kinderlose bedauern, dass sie nie Kinder bekommen konnten? Ist das ein Wohlstandzeichen, dass ich mir überlegen darf, ob ich Kinder bekomme oder nicht? Noch vor ein paar Jahren, nehme ich an, wäre das nicht so ohne Weiteres möglich gewesen. Ich bin glücklich, privilegiert zu sein, mir diese Fragen stellen zu dürfen. Privilegiert, in einem Land zu leben, in dem ich selbst entscheiden kann, was ich als meinen Lebensinhalt ansehe. Dass ich aktiv mitbestimmen kann, was ich in meinem Leben erreichen möchte und ob Kinder ein Teil meines Lebens sein sollen. Ich habe noch so viel zu entdecken und zu lernen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie Kinder mich unterstützen könnten. Ich sehe meinen Platz in vielen Bereichen, nur nicht in der Kindererziehung. Zum Glück hat sich unsere Gesellschaft verändert und findet Platz für uns alle, ob mit oder ohne Kinder.
Ihr Kinderlein kommet
Annemarie Voss (75)
Der Wunsch, Kinder in die Welt zu setzen, scheint ein Bedürfnis vieler Menschen zu sein. Ob in einer Partnerschaft oder Single, fast jede Frau setzt sich früher oder später mit dem Thema auseinander. Einfach ist es, wenn beide in einer Beziehung sich ein Kind wünschen und auch der äussere Rahmen stimmt. Aber es ist nur einfach, wenn sich der Kinderwunsch in absehbarer Zeit erfüllt. Bei rund 80 Prozent der Paare erfüllt sich der Kinderwunsch innerhalb eines Jahres. Wenn die Schwangerschaft ausbleibt, bedeutet das oft eine stressige Zeit für eine Beziehung. Temperatur messen, Eisprung berechnen, Geschlechtsverkehr nach Kalender, danach banges Warten auf das Ausbleiben der Monatsblutung. Paare leben dann oft nur so, um die Möglichkeit schwanger zu werden, zu optimieren. Die Erotik und nicht selten auch die Liebe haben eine Zerreissprobe zu bestehen, der nicht jede Partnerschaft auf längere Zeit gewachsen ist.
Jedes sechste Paar in der Schweiz bleibt ungewollt kinderlos
Mehrheitlich wird spätestens nach etwa zwei Jahren über Alternativen nachgedacht, die den Wunsch nach Nachwuchs realisieren könnten. Zuerst wird untersucht und getestet, bei Mann und Frau, wo die Ursache liegen könnte. Bereits das kann zermürbend sein. Dann zählen die MedizinerInnen unzählige Varianten auf, wie sich die Sterilität überlisten lassen könnte. In jedem Fall Hormone.
«Bei rund 80 Prozent der Paare erfüllt sich der Kinderwunsch innerhalb eines Jahres. Wenn die Schwangerschaft ausbleibt, bedeutet das oft eine stressige Zeit für eine Beziehung.»
Annemarie Voss
Etwa 6000 verheiratete Frauen lassen sich mit medizinischen unterstützten Fortpflanzungsmethoden behandeln
Künstliche Befruchtung im Mutterleib heisst Insemination und hat eine Erfolgsrate von 18 Prozent.
Mit 29 Prozent liegt die In-vitro-Fertilisation, die Befruchtung ausserhalb des Mutterleibes, vorne. Und das bei Frauen unter 35 Jahren. Die Konsequenz einer Entscheidung auf medizinische Fortpflanzungshilfe sind viele Arzt- und Klinikbesuche. Wen wundert’s, wenn Frau sich früher oder später krank fühlt. Da Krankenkassen einen, wenn auch kleinen Teil der Kosten übernehmen, muss es sich wohl um eine Krankheit handeln, von der sich bestenfalls 30 Prozent erfolgreich «heilen» lassen können. Die immensen Kosten, die eine solche Behandlung nach sich zieht, will ich hier gar nicht erwähnen.
Ja, dann gäbe es noch die Möglichkeit einer Adoption. Einfach ist auch diese nicht, wenn die Bedingung ein gesundes Baby oder zumindest ein Kleinkind ist. Wieder Untersuchungen, diesmal durch Behörden, ob der/die AnwärterIn geeignet ist. Viele Kriterien müssen erfüllt sein, so kann schnell der Gedanke aufkommen, sich in Südamerika oder Asien nach einem passenden Kind umzuschauen. Auch das ist mit viel Belastung und Kosten verbunden.
Viele Paare haben enorme Schwierigkeiten, die Kinderlosigkeit zu akzeptieren. Es ist schwer, die Hoffnung loszulassen und anzufangen, darin auch eine Chance zu sehen. Ich habe es akzeptiert, entweder ein Kind auf natürliche Weise zu bekommen oder gar nicht. Eine Adoption konnte ich mir nicht vorstellen, die Angst, Fehler zu machen, war zu gross. Ich als ehemaliges Pflegekind kenne es bestens, wie kritisch ich gegenüber meinen Ersatzeltern war. Auch der Wunsch, sich auf die Suche nach seiner Herkunft zu machen, ist für das Kind und die Pflegeeltern oft sehr schmerzhaft.
Ich habe akzeptiert, dass es kein Recht auf ein Kind gibt. Ich habe es als «höhere Gewalt» angenommen und mir eingeredet, es werde schon einen Grund dafür geben. Meine Ehe hat dann auch nicht so lange gedauert, wie ein Kind braucht, um selbstständig zu werden. Und ich habe angefangen meine Unabhängigkeit zu schätzen. Aber manchmal passiert es, dass ich neidvoll auf die Grosskinder meiner Bekannten schaue.
*Statistische Zahlen des BAG und BfS
Gebärstreik für den Klimaschutz?
Marianne Scheuter (66)
Weil sie um die Zukunft des Planeten fürchten, entscheiden sich immer mehr Frauen, auf eigene Kinder zu verzichten. Seit etwa zwei Jahren nimmt die Bewegung «Birth Strike» in westlichen Ländern, auch in der Schweiz, an Fahrt auf. Ganz spontan reagiere ich betroffen, als ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal davon höre. Gehört es heute zunehmend zu einem verantwortungsvollen, sprich klimaneutralen Leben, sogar auf Kinder zu verzichten? Müssen wir uns künftig schämen, eigene Kinder in die Welt zu stellen? So wie wir nur unter vorgehaltener Hand von unseren Flugreisen erzählen oder dass wir gerne Fleisch essen?
Es gibt viele Gründe, sich gegen eigene Kinder zu entscheiden. Im Gegensatz zu unseren Grossmüttern respektive Müttern haben Frauen heute und hierzulande die Freiheit der Wahl. Gut so! In Entwicklungsländern müssen viele Frauen nach wie vor ungewollte Schwangerschaften akzeptieren. Und dort werden auch die meisten Kinder geboren. In Somalia kamen 2016 pro 1000 Einwohner 40 Kinder zur Welt, in der Schweiz etwa 10, in China mit der damaligen 1-Kind-Politik waren es 12 Kinder. Insgesamt flacht die Geburtenrate weltweit jedoch ab (Quelle: https://www.cia.gov/the-world-factbook/field/birth-rate).
Was also sind die Gründe, die Frauen und Männer dazu bewegen, sich wegen des Klimawandels gegen Nachkommen zu entscheiden?
Einerseits ist es die Zukunftsangst, und die ist verständlich. Heute ist der Klimawandel ganz real eine Bedrohung für die Zukunft unseres Planeten, unserer Kinder und Kindeskinder. Meine Grossmutter hatte nach der Spanischen Grippe Angst vor einer neuen Pandemie, meine Mutter hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Angst vor Kriegen und ich selber hatte Angst vor einem Atomkrieg. Trotzdem sind wir alle Mütter geworden.
«Weil sie um die Zukunft des Planeten fürchten, entscheiden sich immer mehr Frauen, auf eigene Kinder zu verzichten.»
Marianne Scheuter
Als zweiten Grund nennen «Birth Strike»-Mitglieder, dass sie ohne Kinder mehr Zeit hätten, sich aktiv für den Klimaschutz zu engagieren. Das ist ein persönlicher Werte-Grund und hat viel mit der Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung zu tun.
Kinder sind die grössten «Klimaschädlinge»
Diesen dritten Grund, den «Birth Strikerinnen» anbringen, kann ich kaum nachvollziehen – «Kinder schaden dem Klima am stärksten und deshalb sollten wir keine mehr zur Welt bringen.» Woher kommt dieses Argument und vor allem – stimmt es wirklich?
Ausschlaggebend für den Start der sogenannten «Birth Strike»-Bewegung ist eine heute sehr umstrittene Studie der schwedischen Universität LUND. Diese untersuchte 2017 jene Massnahmen, die den CO2-Fussabruck am effektivsten reduzieren könnten. Und ja – gemäss Studie seien Kinder die grössten «Klimaschädlinge» überhaupt, weil sie rund zehnmal so viel CO2-Emissionen produzierten wie der Strassenverkehr, wie Flugreisen, ja sogar wie die Industrie. Diese Botschaft wird seither durch die Medien gereicht. Leider wird kaum hinterfragt, wie die Werte zustande gekommen sind. Längst haben seither Wissenschaftler und Klimaethiker die Ergebnisse der Studie relativiert, aber der ungute Samen in der Gesellschaft ist gesät. Mit folgenschweren Konsequenzen für die Familienplanung von engagierten Klimaschützerinnen. Oft sind es gerade gebildete und reflektierende Frauen, die mit diesem für manche auch schmerzhaften Verzicht für eine bessere Welt einstehen wollen.
«All das, was wir unseren Kindern an Handlungskompetenzen mitgeben, wirkt kurz und mittelfristig stärker zu Gunsten unseres Planeten als der Verzicht auf Kinder.»
Marianne Scheuter
Die Gefahren der Statistik – wenn Äpfel mit Birnen verglichen werden
Der CO2-Fussabdruck eines Kindes wurde errechnet, indem die durchschnittlichen CO2-Emissionen von (nur) drei Industrieländern (USA, Japan, Russland) durch die durchschnittliche Lebenserwartung der Amerikaner geteilt wurden. Zudem wurden auch künftige Kinder und Kindeskinder miteinberechnet bis ins Jahr 2400! So ergaben sich besonders hohe Werte. Es wurde also nicht dargestellt, welchen Fussabdruck ein einzelner Mensch (weltweit) zu seinen Lebzeiten real hinterlässt. Im Falle von anderen Möglichkeiten, den CO2-Ausstoss zu minimieren (Verzicht auf Auto, Flugreisen, Fleischkonsum), wurden nur die Werte angegeben, die in einem Jahr entstehen und dies nicht über Generationen hinweg. Die Vergleichswerte halten also der Realität im Hier und Jetzt nicht Stand und basieren auf hypothetischen Annahmen zur Zukunft.
Zukunft mit Kindern – Kinder der Zukunft
Im Gegensatz zur LUND-Studie sind sich Klimaforscher rund um den Globus heute einig: Das Klimaproblem nur über die Kinderfrage lösen zu wollen, greift viel zu kurz. Bis ein Verzicht auf eigene Kinder von wenigen Menschen in wenigen Teilen der Welt überhaupt klimawirksam würde, wäre der Klimawandel längst zu weit vorangeschritten. Wir müssen jetzt drastische Massnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstosses ergreifen, damit unsere Kinder eine lebenswerte Zukunft haben.
All das, was wir unseren Kindern an Handlungskompetenzen mitgeben, wirkt kurz und mittelfristig stärker zu Gunsten unseres Planeten als der Verzicht auf Kinder. Eine überalterte Gesellschaft wird das Klimaproblem nicht lösen können, sondern neue Probleme schaffen.
Wir brauchen Kinder, wir brauchen die Jugend, die sich aktiv für eine gesunde Erde engagieren können – aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Erziehung, ihrer Werte und ihrer persönlichen Ressourcen. Nicht was wir den Kindern hinterlassen, sondern was wir ihnen mitgeben, wird den Klimawandel beeinflussen.