
Dû bist min, ich bin dîn:
des solt dû gewis sîn;
dû bist beslozzen in mînem herzen,
verlorn ist daz slûzzelîn:
dû muost ouch immer darinne sîn.
Erika: Wer kennt es nicht, dieses mittelalterliche Gedicht einer Unbekannten? Du bist mein, ich bin dein. – Mein Mann, meine Frau, unsere Kinder… meine Angehörigen also, gehören sie mir?
Livia: Ich denke, es gibt auf diese Frage keine einfache Antwort. Ich definiere mich schon durch meine nächsten Mitmenschen. Sie machen mich zu einem grossen Teil zu der, die ich bin. Meine Angehörigen gehören also schon zu mir – doch im Sinne von Besitz? Eine Extremform von Besitz eines Menschen sind Leibeigene und Sklaven ohne eigene Rechte und Autonomie. Das sind meine Angehörigen für mich natürlich nicht. Erika, kann man jemanden besitzen und ihm oder ihr dennoch Autonomie gewähren?
In der Schweiz ist der Passus, dass der Mann das Oberhaupt der Familie sei, erst seit 1988 nicht mehr Gesetz.
Erika Kestenholz
Erika: Jemand besitzen heisst ja, dass die Person in meinem Einflussbereich ist, dass ich Verfügungsgewalt habe über sie. Nur in einem solchen Verhältnis kann ich auch Autonomie gewähren. Ich glaube, dass mein Vater meiner Mutter hätte verbieten können, arbeiten zu gehen. Also gehörte sie im weitesten Sinn zu seinem Besitz. Aber er liess sie autonom entscheiden. In der Schweiz ist der Passus, dass der Mann das Oberhaupt der Familie sei, erst seit 1988 nicht mehr Gesetz. Lisa Alex, Autorin bei «Perspektive Online», schrieb einen Artikel mit dem Titel «Die Frau – Eigentum des Mannes?» Da steht: Im antiken Rom war die Frau zuerst Eigentum ihres Vaters und mit der Hochzeit ging sie in den Besitz ihres Ehemannes über. Teilweise wurde die Frau sogar an ihren Ehemann verkauft.
Livia: Leider ist es in vielen Kulturen ja immer noch so, dass eine Frau ihrem Mann «gehört», was oft auch religiös begründet wird. Dieses Muster finden wir in allen Religionen, vor allem in den fundamentalistisch-konservativen Formen. Dabei könnte man ja Religion (egal welche) auch gleichberechtigt leben – oder etwa nicht? Und in der Schweiz sind wir auch nur auf dem Papier gesetzlich gleichberechtigt; die Realität sieht oft anders aus. Frauen sind zum Beispiel, viel öfter als Männer, die Opfer von Beziehungsdelikten. Eifersucht und Besitzansprüche sind da oft ein Thema. Sind eigentlich Männer besitzergreifender als Frauen?
Im Falle von urteilsfähigen Erwachsenen finde ich es absurd, dass nicht schon immer die gleichen Rechte und Besitzansprüche – unabhängig vom Geschlecht – galten und gelten!
Livia Thurian
Erika: Frauen können zwar auch eifersüchtig sein. Trotzdem würde ich eher sagen: Ja. Ist nicht vor kurzer Zeit eine der Frauen des Emirs von Dubai, eine jordanische Prinzessin, vor ihrem Mann geflüchtet und im Ausland untergetaucht? In mir sträubt sich alles gegen die Bevormundung der Frauen. Aber früher war Verbindlichkeit und Stabilität in Beziehungen und Ehen wichtig. Frauen und Männer hatten klar abgegrenzte Aufgabengebiete, vor allem in Bauernbetrieben. Die gegenseitige Abhängigkeit war gross. Möglicherweise sorgten besonnene, umsichtige Leute dafür, dass Frauen nicht die Möglichkeit erhielten, für sich selber zu sorgen. Vielleicht versuchte man so zu verhindern, dass die Frauen Haus und Hof und die Familien im Stich liessen, wenn ihnen etwas nicht passte?
Livia: Ein vielschichtiges Thema. Im Falle von urteilsfähigen Erwachsenen finde ich es absurd, dass nicht schon immer die gleichen Rechte und Besitzansprüche – unabhängig vom Geschlecht – galten und gelten!
Erika: Finde ich auch. Anderseits staune ich darüber, dass junge Frauen immer noch von der Märchenhochzeit in Weiss träumen und mehrheitlich den Namen ihres Mannes annehmen.
Livia: Ja, das stimmt mich nachdenklich. Ein anderes Thema: Eltern haften für ihre Kinder, sie dürfen und müssen auch in vielen Bereichen für sie entscheiden. Erika, sind deine Kinder dein Besitz?
Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht
Khalil Gibran
Erika: Als sie ganz klein waren, irgendwie schon. Jetzt sind sie zum Glück autonom. Ich kannte allerdings bereits vor der Geburt des ersten Kindes den Text aus dem Buch «Der Prophet» von Khalil Gibran:
«Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.»
Livia: Bei diesem Zitat kommt mir der Gedanke, wie sehr manche Eltern ihre Kinder drillen. Der zehnjährige Sohn muss ein Instrument lernen, aber er muss auch ins wöchentliche Handballtraining und dazu noch Mathe-Nachhilfe besuchen. Natürlich wollen solche Eltern das Beste für ihr Kind, das würde ich keinem Elternteil absprechen. Aber gesund für die kindliche Entwicklung ist das definitiv nicht, und für mich wirft solches Verhalten die Frage auf: Haben da die Eltern nicht auch etwas zu kompensieren, das sie selber nie erreicht haben? Jetzt versuchen sie es bei «ihren» Kindern. Das Kind also als Besitz, der dem Selbstwert der Eltern dient; es wird zu Mamas und Papas Statussymbol. Das ist wohl eine gewagte und zugespitzte These. Was findest du dazu?

Erika: Diese These trifft oft zu. Heutzutage wird ja geplant, ob man ein Kind haben will oder nicht, eben ein Wunschkind, die Erfüllung des Lebens. Eltern könnten sich einbilden, ihre Kinder sozusagen selber geschaffen zu haben. Das Kind sollte dann bitte auch den elterlichen Wünschen und Vorstellungen entsprechen. Genau da kommt es auf den Blickwinkel an. Ist das Kind ein Produkt der Eltern oder ein Individuum, das die Eltern respektvoll begleiten? Dazu eine Frage: Du hast am Anfang gesagt, dass du durch die Wahrnehmung deiner Nächsten zu der wirst, die du bist. Wie hast du das gemeint?
Livia: Ich wollte damit sagen, dass ich mich als Mensch nur dann wertvoll und «als jemanden» fühle, wenn ich in eine Gemeinschaft eingebettet bin. Dadurch, dass ich zu anderen Menschen gehöre, definiere ich mich ein Stück weit selbst. Somit ist vielleicht ein gewisser Besitzanspruch in Beziehungen die Voraussetzung für das Identitätsgefühl eines Menschen?
Erika: Dieses Wahrgenommen- und Eingebettet-Sein finde ich für Kinder überaus wichtig. Als Erwachsene sollten wir eine gute Beziehung zu uns selber aufbauen und uns sozusagen selber «in Besitz nehmen», als Voraussetzung für gute Beziehungen ohne Besitzansprüche.