In der amerikanischen Verfassung steht festgeschrieben, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, sein Lebensglück nach den eigenen Vorstellungen zu suchen. Westdeutschland hat mit dem Wirtschaftswunder diesem Denken alle Ehre gemacht. Als Freund der USA setzte es auf die kapitalistische soziale Marktwirtschaft und schaffte damit Wohlstand für die Bevölkerung.
Deutschlands Osten geriet dagegen in den Machtbereich Moskaus und damit unter die kommunistische Planwirtschaft. Diese Wirtschaftsform unterdrückte die persönliche Freiheit und Unterschiedlichkeit der Menschen, persönliches Eigentum liess Moskau kaum zu. Gegen dieses Verbot zu verstossen galt als «Diebstahl am Volkseigentum» und wurde hart bestraft. Das Politbüro bestimmte nach Fünfjahresplänen die Produktion von Gebrauchsgütern und ignorierte damit die individuellen Bedürfnisse der Bevölkerung.
Das bedeutete Mangelwirtschaft und Frust für die Menschen, die es schliesslich 1989 schafften, sich nach dem Fall der Berliner Mauer aus dieser Zwangsjacke zu befreien.
Im Westen floriert der Konsum
Der Kapitalismus lebt vom Herstellen und Verkaufen, sein Motor ist der Konsument. Sein Motto ist: «Ich konsumiere, also bin ich». Mir ist es wohl in unserem kapitalistischen System. Müsste ich einen Einkaufsbummel in einem westlichen Warenhaus in einem Bild dar-stellen, wäre es eine bunte Schachtel, deren Deckel sich auch mit Nachdruck nicht schliessen liesse, so viele Dinge müssten hinein.
Wir haben es einfach: Brauche ich etwas, finde ich es schnell, ich weiss, was es zu kaufen gibt und wo. Ganz nach Lust und Laune bestimme ich im hübsch dekorierten Warenangebot Farbe, Grösse und Material; überlege, ob ich das Teure oder das Günstige wähle, bezahle und gehe meiner Wege. Jeden Tag kann ich wiederkommen und immer ist alles zu haben, egal in welcher Stadt. Ein wahres Vergnügen. Für den Kommunismus gilt: Alles gehört dem Kollektiv. Ich lebe für eine Idee, nicht, um etwas zu besitzen.
Moskau im Jahr 1986
Anders erlebte ich 1986 einen Bummel in Moskau: Kaum Schaufenster, höchstens aufgeschichtete Pyramiden aus Konservendosen. Was mich erstaunte: Es gab nichts zum Anfassen. Die Menschen waren aber trotzdem alle mit irgendwelchen Taschen unterwegs. Ich begriff schnell warum. Plötzlich fuhr ein altes Fahrzeug auf den Platz und eine Frau öffnete hinten eine Tür. Dann begann sie grüne Äpfel zu verkaufen. Vielleicht aus ihrem privaten Garten? Spontan bildete sich eine dichte Schlange.
Das Geschäft lief stürmisch. Ich erinnere mich an den Pappkarton, in den die Frau die vielen Rubelscheine wahllos hineinwarf, als ihre Schürzentasche voll war. Während die Frauen ihre Äpfel in die Taschen stopften, verschwanden andere in einem nahen Gebäude und kamen mit Gummistiefeln zurück. Es regnete nicht. Im HO-Laden (Handelsorganisation) war offenbar etwas zu haben. Diesmal gab es Gummistiefel, ein anderes Mal vielleicht Kochtöpfe oder Socken. Jeder wusste es: «Immer bereit sein, zuzugreifen!». Zum Tauschen eignete sich alles.
Die Menschen waren ständig auf der Jagd nach Dingen des täglichen Lebens. Meine Schachtel nach einem Bummel auf einer Strasse des «Arbeiter- und Bauernstaates» ist grau, einmal ist etwas Brauchbares darin, ein anderes Mal bleibt sie einfach leer.
Ostdeutsche mit Verwandten im Westen genossen es, wenn die ihnen ab und zu Pakete schicken durften mit Dingen wie Kaffee, starkem Nähgarn oder Reissverschlüssen, die nirgends aufzutreiben waren. Welchen Wert sie hatten, wurde uns klar, als wir in einem Restaurant so lange nicht bedient wurden, bis wir diskret, aber gut sichtbar, diese Wundermittel auf den Tisch legten. Trotzdem konnten wir aus einer langen Speisekarte mit vielen blumigen Namen doch nur ein einziges Gericht auswählen, bei allen anderen hiess es: «Gibt es heute nicht.»
In unserem Moskauer Hotel «Russia» wurden Ausländer und Einheimische in getrennten Etagen untergebracht. Das galt auch für die Restaurants. Aus Versehen gerieten wir einmal in einen Frühstücksraum für Einheimische und trauten unseren Augen nicht: Es gab nichts als Tee aus einer grossen Blechkanne, ein lieblos abgeschnittenes Stück von einer langen fetten Wurst, dazu eine Scheibe Mischbrot. Sitzplätze gab es keine. Einige Männer schlürften Joghurt direkt aus der Flasche. Wir probierten es. Es schmeckte gut.
Die Gedanken sind frei
Die Planwirtschaft ist gescheitert. Sie strebte nach Gleichheit, schaffte aber Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Die Marktwirtschaft hat auch ihre Schwächen, aber sie gewährt persönliche Freiheiten, Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten, um Probleme kreativ lösen zu können. Das ist für mich entscheidend.