
Bern, Breitenrain, ein diskretes, helles Büro, ein freundlicher Empfang durch Gyan Härri (50), den Geschäftsführer von «aurora», dem «anderen Bestattungsunternehmen». Die so bezeichneten BestatterInnen dehnen ihre Tätigkeit über das Übliche hinaus aus – sie begleiten oder organisieren ungefähr «alles, was gewünscht wird». Sie gehen auf unterschiedliche Vorstellungen zum Tod ein: «Wir wollen die Leute nicht dafür beurteilen, wie sie sich ihren Abschied vorstellen.» Die MitarbeiterInnen führen Vorsorge- und Organisationsgespräche, zehn Minuten oder fünf Stunden lange; sie überführen, behandeln und versorgen, bergen manchmal Körper; helfen bei Trauerfeiern und Beisetzungen aller Art, in Kirchen oder Abdankungshallen, genauso wie in Pfadiheimen, Restaurants oder in der Natur; sie vereinbaren und vollziehen Rituale; sie wirken bei den nötigen Dokumenten mit. Einzigartig in der Schweiz ist für die Angehörigen die Möglichkeit, im Fond des Bestattungswagens mitzufahren.
Die Zusammenarbeit mit Geistlichen ist heute selbstverständlich und geschieht auf Augenhöhe. Es kommen Menschen sehr unterschiedlicher Glaubensrichtungen zur Beratung, neben allen Schattierungen des Christentums auch Hindus, MuslimInnen, Juden und Jüdinnen, aber auch «Fatalisten», die an kein Nachleben glauben. Immer häufiger gibt es Menschen, die sich nicht einer Kirche zugehörig fühlen, aber auf ihre eigene Art gläubig sind. Ist eine Kirche beteiligt, sind die Abläufe klarer vorgegeben; doch immer häufiger wird keine einbezogen. Da gilt es, die spirituelle Ausrichtung und die Wünsche der Beteiligten herauszufinden. Und über alles zu reden. Bei den Religionsangehörigen ist es zudem wichtig, deren Traditionen zu kennen.
Von besonders ausgefallenen Bestattungen möchten wir hören: Jemand hat seine Asche in Feuerwerk verpacken und im Rahmen eines Familienfestes abfeuern lassen. Oder ein Schamane hat ein unvertrautes, fast makabres Ritual vorgeschrieben…

Andeutungen hiervon gab es ja bei Mike Müller am TV auch; das Berufsbild kam da ziemlich schräg rüber. Anders als diese krimimässige Präsentation vermuten liesse, sind Herrn Härri in seinen zehn Jahren Berufserfahrung erst «1,5 Delikte», also Kriminalfälle, begegnet.
Wer wird Bestatter, und wie? Oft sind es Kinder von Bestattern oder Quereinsteiger. Es gibt keine Berufslehre; man erlernt zunächst einen anderen Beruf. Anschliessend wird man berufsbegleitend bei einem Bestattungsunternehmen ausgebildet. Später stehen die Ausbildungen beim Bestatterverband und schliesslich die Prüfung zum eidgenössischen Fachausweis offen. MitarbeiterInnen von aurora besuchen zudem den Lehrgang bei den Thanatologen in Deutschland, wo es um eine natürliche Wiederherstellung von Körpern geht.
Mit Menschen in einer extremen Situation reden
Den Kern des Berufs stellt der Umgang mit den Angehörigen und mit den Sterbenden selbst dar, in Vorsorge- und in Organisationsgesprächen. Die Nähe zu den Familien und die Tiefe, die hier entstehen können, seien am ehesten mit der Tätigkeit einer Hebamme zu vergleichen, sagt Gyan Härri. Oft beobachtet er dabei eine einzigartige Authentizität, eine «Nacktheit», er nennt es auch eine Tür, die in dieser emotionalen Situation kurz offensteht. Besonders hoch ist die Intensität bei einem unerwarteten Tod. Im Gegensatz dazu müssen sich Angehörige von Palliativ-PatientInnen bereits mit dem Loslassen auseinandersetzen; sie sind schon ein Stück des Trauerweges gegangen. Empathie und Fingerspitzengefühl sind gefragt – zugleich handelt es sich um ausnehmend echte, tief emotionale Momente, was positive Gefühle nicht ausschliesst. Gyan Härri findet deswegen, es sei streng, aber er habe das gerne. Schwierig wird es etwa, wenn Angehörige unterdrückte Wut empfinden – wird diese gelebt, kann sie sich in Trauer wandeln. Tränen können fliessen, es entsteht ein innerer Raum für Liebe. Häufig wollen die Menschen erzählen. «Manchmal scheint die Luft so dick, dass man sie abschneiden könnte. Und ein anderes Mal lachen wir eine Stunde lang.»
Der Bestatter braucht psychologisches Geschick. Er muss auch systemisch denken und beraten. Denn zumeist tritt er einer Familie gegenüber und die enthüllt in diesem Ernstfall ihren Zustand. Es kann sein, dass Entzweite sich bei einem Todesfall wieder näherkommen – oder das Gegenteil. Details werden wichtig, wie die Namen auf der Todesanzeige und deren Reihenfolge. Bestatter weisen darauf hin, was da zu beachten ist, und vermitteln vielleicht. Sterbende haben das Recht über die Zeremonien zu entscheiden. Das führt manchmal zu Konflikten mit oder unter den Lebenden. Da gilt es abzuwägen: Haben die Betroffenen zuvor über das Sterben gesprochen? Vielleicht war das nicht möglich. So bleibt oft einiges offen. Und falls jemand nichts vorbesprechen möchte: «Sterben kann man genau gleich gut.»
Vorstellungen verschieben sich. Als begleitete Sterbehilfe neu in die Altersheime vordrang, spielten Moralvorstellungen und Schuldgefühle eine grosse Rolle. Das belastete die Familien und die Betreuenden, hat sich jedoch innert den letzten zehn Jahren gewandelt – ähnlich wie die Einstellung zum Selbstmord.

Wofür steht «aurora»? Lateinisch: die Morgenröte. Das Erste, was man sieht nach langer dunkler Nacht. Aurora steht also für die Hoffnung, dafür, dass es weitergeht, nicht für Trauer oder schweres Sterben. In Gyan Härris Lebenserfahrung ist es so, dass die schwierigsten Momente ihn am weitesten vorangebracht haben. Auf jeden Fall geht es darum, den Angehörigen eine positive Einstellung zu vermitteln.
Und Himmel und Hölle? Kaum jemand denkt, er komme in die Hölle. Beides tragen wir in uns, in unserem Leben, meint Gyan Härri. Wie Höhen und Tiefen, Licht und Schatten.