Es rattert im alten Bähnlein. Die Fenster stehen offen und der Fahrtwind wirbelt einem die Haare durcheinander. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit geht es zwischen steilen Felswänden das Mattertal hinauf.
Annemarie Voss (71): Diese alten Wagen erinnern mich immer an meine Schulreisen als Kind. Da haben wir jeweils die Fenster geöffnet und die Köpfe rausgestreckt.
René Mathys (63): Also ich finde diese Wagen auch viel sympathischer als die neuen. So ist das Reisen wirklich noch ein Erlebnis.
Alt und Jung schauen einander an – das ruft doch nach einer Tat. Wir eilen auf die andere Seite des Wagens, öffnen die Fenster und lehnen uns hinaus, um einen Wasserfall zu bewundern, genau wie früher auf dem «Schulreisli», mit dem Unterschied, dass da kein Lehrer ist, der uns ermahnen könnte.
Robin – unser Fotograf – dokumentiert den Spass: Alle lächeln für Robin! Doch wie sind wir überhaupt in diesen Wagen auf dem Weg nach Zermatt gelandet? Begonnen hat die Geschichte etwa eine Stunde zuvor auf dem Bahnsteig eins in Thun. Ein Würfel sollte entscheiden, wohin die Reise geht. Obenauf zeigte der Würfel die Eins – auf dem entsprechenden Bahngleis warten wir eine Weile, bis der nächste Zug kommt.
Eine Gruppe junger Punks lümmelt auf dem Perron herum und hört Rock’n’Roll-Musik.
Miriam Lenoir (22): Stört euch als VertreterInnen der «alten» Generation diese Musik?
René: Also früher gab es das so nicht, da wäre sofort das Bahnhofpersonal gekommen und hätte die vertrieben. Das Regime an den Bahnhöfen war allgemein sehr strikt. Einmal war ich in meiner Jugendzeit mit zwei jungen Frauen am Bahnhof Bern unterwegs. die Kolleginnen trugen Hot Pants und wollten zusammen mit mir in den Zug steigen, wurden aber vom Kondukteur gleich wieder vertrieben.
Der Zug fährt ein und mit uns eine Haltestelle weiter nach Spiez. Da wir aber keine Lust haben, schon wieder zu warten, entschliessen wir uns, einfach den nächsten Zug zu nehmen. Er bringt uns nach Visp. René besteht darauf, dass wir uns in das Bistro setzen.
Miriam: Das ist das erste Mal, dass ich hier sitze. Da muss man ja noch extra zahlen.
René: Dafür haben wir hier unsere Ruhe. Ich fahre, wenn immer möglich im Bistro: Bei Kaffee und mit einer Zeitung auf dem Tischchen.
Während der Unterhaltung über Reisen stellt sich heraus, dass Miriam noch nie das Matterhorn in natura gesehen hat. Und das als Schweizerin! Das Smartphone verrät uns, dass fünf Minuten nach unserer Ankunft in Visp ein Zug nach Zermatt abfährt. Das Reiseziel ist nun klar.
Annemarie: Früher war es eine halbe Weltreise nach Zermatt. Heute dauert die Reise von unserem Ausgangspunkt Thun nur eine Stunde und 40 Minuten. Ohne den Lötschbergtunnel musste man zuerst bis Kandersteg, dann im Wallis wieder den Hang runter und zuletzt im langsamen Zug nach Zermatt fahren. Das dauerte gut drei Stunden.
Und so sitzen wir jetzt im Zug das Mattertal hinauf. René spielt den Reiseführer und weist uns immer auf spezielle Orte hin. Reiseerfahrung ist offenbar vorhanden. Zuoberst auf den Hügeln sieht man Rebberge und einen modernen Kirchenbau.
Annemarie: In St. Niklaus wird der Kirchenturm jedes Jahr zur Adventszeit als Samichlaus verkleidet.
René: Es ist erschreckend, wie hier die Arbeitskräfte abwandern. Die gehen alle durch den Tunnel ins Mitteland arbeiten.
Der Zug schlängelt sich durch das wilde Tal; wir schauen die Hänge und unsere Schuhe an. Das wird leider nichts mit der Matterhorn-Besteigung. Wir kommen in Zermatt an. Dort versammelt sich die Welt. Die Fahrt nach Asien erübrigt sich, es kommen ja alle nach Zermatt. Ein grosser Unterschied zur Luzerner Einkaufsmeile ist aber nicht ersichtlich. Als wir das Dorf durchquert haben, sehen wir endlich den heiligen Berg – das Matterhorn. Doch bald ist es Zeit zur Rückkehr, nun mit einem modernen Panoramazug. Es fehlt der Charme der ratternden Räder.
Robin: Die Strecke kennen wir ja schon, wollen wir Tichu spielen? Das ist eine Mischung aus Poker, Tschau Sepp und Jassen. Ich kann es euch schnell beibringen.
Annemarie: Das Spiel sieht schon wieder sehr nach China aus.
Miriam: Nein, das ist eine Erfindung aus Bern.
Das Spiel gelingt. Auch im Alter kann man offenbar dazulernen. Die Abschlussfrage der Reise stellt sich. Was gefällt euch am besten am Unterwegssein?
René: Das Plaudern mit anderen Menschen.
Annemarie: Das Weggehen und das Ankommen.
Robin: In Bewegung zu sein.
Miriam: Am Wegrand unerwartete Schönheit entdecken.