Wir schliessen einen Lebenskreis oder spannen einen Lebensbogen. Wir sprechen von A und O und denken dabei an Anfang und Ende. Das Dazwischen, die Jahre von circa 40 bis 65, sind zwar mitgemeint, aber selten explizit erwähnt. Auch ein schönes Bild: Die Lebenstreppe. So visualisierte man in früheren Jahrhunderten die Lebensstufen. Aufstieg bis zur Lebensmitte und von da an geht es nur noch abwärts.
Schule – Arbeit – Rente
Seit dem 19. Jahrhundert gilt in Industrienationen der Lebenstakt Schule – Arbeit – Rente. Auch heute endet die Jugend noch mit ungefähr 30 (trau keinem über 30) und beginnt das Alter mit 65 (vulnerable alte Personen während der Pandemie). Das Dazwischen ist zwar immer noch von vielen gesellschaftlichen Normen wie Beruf oder Care-Arbeit geprägt, doch haben wir heute einen deutlich grösseren Spielraum das Leben zu gestalten. Eine Liebe, ein Beruf, ein Wohnort fürs Leben – das war einmal. Ausserdem bleiben wir länger gesund und werden älter. Es bleibt also auch im Alter mehr Zeit für sinnvolles Tun.
Zwischen 40 und 65: Das volle Leben!
Noch vor 100 Jahren wurden die Menschen im Durchschnitt 48 Jahre alt. Heute rechnen wir hierzulande mit einem Durchschnittsalter für Frauen von 86, für Männer von 82. Die Menschen im mittleren Alter werden also immer zahlreicher. Sie machen ein Drittel der Schweizer Bevölkerung aus, nach gängiger Einteilung auch Gen X (1980-1995) oder Gen Y (1965-1980) genannt.
In der Lebensmitte kann im schlimmsten Fall alles gleichzeitig, im besten Fall vieles nacheinander kommen: Familiengründung, beruflicher Ein- und Aufstieg, Kinder erziehen und wieder ziehen lassen, für die eigenen Eltern sorgen, Partnerschaften beenden, neu beginnen. Von all den unliebsamen äusserlichen Veränderungen wie Runzeln, Kilos und grauen Haaren ganz zu schweigen.
Ende in Sicht
«Nicht mehr sexy und noch nicht senil», so Mona Vetsch und Tom Gysler in ihrer Show «Im mittleren Alter». Die Menschen kennen sich selbst in den sogenannt «besten Jahren» meist etwas, können aus gemachten Erfahrungen schöpfen und sind in der Lage, Situationen differenzierter zu beurteilen.
Doch Übergänge verunsichern, machen verletzlich, verlangen eine neue Identitätsfindung. Und als wäre damit noch nicht genug: In der Mitte des Lebens ist das mögliche Ende bereits deutlich sichtbar. Entsprechend tauchen Fragen auf: Wofür ist es schon zu spät? Was hätte man dafür besser, schneller, anders machen können? War es das schon? Von jetzt an nur noch Endlosschleife und dann Schluss? Midlife-Crisis, gar?
Reflektieren und gestalten
Die Mitte des Lebens sei wenig erforscht, hält die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello fest: «Man hielt das Erwachsenenalter in Bezug auf das Entwicklungspotenzial für ein Plateau der Ereignislosigkeit», liess sie sich 2020 in der NZZ zitieren.
Man hielt das Erwachsenenalter in Bezug auf das Entwicklungspotenzial für ein Plateau der Ereignislosigkeit.
Pasqualina Perrig-Chiello
Die Philosophin Barbara Bleisch bestätigt in ihrem neuesten Buch, dass Randzeiten des Lebens (Geburt/Kindheit und Alter/Tod) reich behandelt werden und, «dass die Lebensmitte bisher nahezu philosophisches Niemandsland ist und sich kaum ein philosophisches Sachbuch explizit dieser Phase widmet.»
Neuerscheinungen, die zu reden geben:
Der Buchmarkt bietet eine reiche Auswahl an Ratgeberliteratur zu Wechseljahren und Midlife-Crisis. Wer sich aber als Laie philosophisch oder entwicklungspsychologisch mit den Übergangsphasen der zweiten Lebenshälfte auseinandersetzen wollte und leicht zu lesende Bücher suchte, wurde nicht fündig. 2024 nun füllen die beiden Schweizer Autorinnen diese Lücke mit zwei wichtigen Neuerscheinungen. Sie vertiefen unterschiedliche Ansätze und kommen dabei zu ähnlichen Schlussfolgerungen.
Pasqualina Perrig-Chiello: «Die besten Jahre»
Pasqualina Perrig-Chiello behandelt in «Own your age» die gesamte zweite Lebenshälfte aus der Perspektive als Wissenschaftlerin und schöpft aus ihrer Erfahrung im Austausch mit zum Thema befragten Menschen. Sie schreibt eingangs, sie möchte den Leser:innen helfen, sich selbst zu verorten, damit sie ihre Zukunft positiv gestalten können. Dies über die gesamte Zeit der noch folgenden Lebensumbrüche hinweg, bis zum letzten und endgültigen, also bis zum Tod.
Das Nachdenken über die Lebensmitte mit ihren verunsichernden Umbruchsphasen bezeichnet Perrig-Chiello als «innovativ» und sowohl für die Wissenschaft wie für Einzelne unbedingt notwendig, denn: Bewältige ein Mensch diese Übergänge, könne er gestärkt oder gar resilient auf seinem Weg weitergehen, die Krisen nutzen, eventuell die Weichen neu stellen. Die mittleren Jahre sind für Perrig-Chiello die «besten Jahre», denn da ist Zeit genug, etwas lange Aufgeschobenes – egal, ob klein oder gross – neu anzupacken. Da ist genügend Erfahrung vorhanden, um die eigenen Schwächen und vor allem, die eigenen Stärken zu definieren: In dieser Mitte heisst es also Chancen packen, aufbrechen, neu und Neues denken, Sinnstiftendes für sich selbst und die Gesellschaft tun und ein gutes Leben führen. Eigentlich heisst dies, sich unter neuen Umständen neu erfinden.
Die Lebensmitte ist bisher nahezu philosophisches Niemandsland.
Barbara Bleisch
Barbara Bleisch: «Die freiesten Jahre»
Barbara Bleisch bietet in «Mitte des Lebens» gleichzeitig eine persönliche wie eine philosophische Herangehensweise an. Die 51-jährige Philosophin leuchtet ihre Betrachtungen differenziert aus und empfiehlt Texte aus Philosophie und Literatur zum Weiterlesen und Vertiefen.
Sie postuliert, dass die mittleren Jahre nicht bloss die besten, sondern die freiesten sind. Wirklich? Eingezwängt zwischen Kindern, Haushalt, Beruf, Elternbetreuung soll man auch noch Musse finden für die persönliche Standortbestimmung und anschliessende Neuerfindung? Ja, findet Barbara Bleisch, denn in der Mitte des Lebens sollten wir uns auskennen und wissen, wo es lang geht.
Das Leben eigenverantwortlich sinnvoll gestalten
In der Mitte des Lebens seien Lebensträume entweder realisiert oder geplatzt. In beiden Fällen müsse man den Blick weiten und an eine sinnvolle Gestaltung der kommenden Jahre denken. Dafür rät Barbara Bleisch erstens Bisheriges in Zweifel zu ziehen, zweitens sich zu fragen: könnte auch ein genau gegenteiliger Entscheid ein richtiger gewesen sein? Drittens Ballast abzuwerfen, etwa überflüssige Gepflogenheiten, Regeln, Zwänge. Die durchlebten Jahrzehnte erlauben Rückschau mit einer gewissen Distanz und vermitteln die Souveränität, gewonnene Spielräume zu nutzen.
Ist alles ehrlich durchleuchtet, eventuell mit professioneller Hilfe, gehen wir vielleicht umso gefestigter aus verunsichernden Lebensumbrüchen oder Krisen hervor.