Von Geburt an
Greti Kilchenmann macht Interviews für Radio 60plus. Sie betreibt Yoga, Qigong. Sie singt in einem Chor. Sie schreibt Mails. Sie hat etliche
Länder bereist. Das alles nimmt sie wahr – nur nicht mit den Augen.
Greti Kilchenmann ist 75. Sie wohnt in Worb in einem alten Haus, dort, wo sie zur Welt kam – stark sehbehindert. Damals führte die Familie einen Bauernbetrieb; da konnte sie nicht mithelfen. Aber kleine Hausarbeiten lagen drin. Mit Verwandten unternahm sie einiges, ging in die Badi, fuhr Trottinett, lernte das Radio kennen. Zuhause – die Eltern bekamen keine Beratung – hiess es: «Sie sieht nicht gut.» Im Heim danach jedoch, vorschnell wohl: «Sie ist blind.» Dabei erkannte Greti Farben und Umrisse, grosse Objekte.
Sie war 6-jährig, als sich die «Blindenfürsorge» – wie das damals hiess – meldete; in der Blindenanstalt Spiez sollte sie geschult werden. Gelegentlich ein Sonntag oder Ferien daheim, da musste «längi Zyti» aufkommen. Die Schule war an sich gut. Alle hatten Ämtli. Und von der ersten Klasse an lernten sie die Braille-Schrift, später auch eine Blinden-Kurzschrift und eine Form von Stenografie. In der achten Klasse kam die Schreibmaschine dran.
Greti Kilchenmann führt eine kleine Tafel vor, die es ermöglichte, mit einem Stift Braille-Zeichen zu stanzen – spiegelverkehrt – und so Texte zu liefern; so korrespondierten ihre Eltern mit ihr. Viele technische Hilfen kamen später. Und parallel ist die Integration von Blinden heute fortgeschritten: Einige sitzen in Regelklassen und werden von Hilfspersonen betreut.
Greti Kilchenmann hat einen bemerkenswerten Weg durchlaufen: Nach der neunten Klasse ein Jahr im Welschland; dann eine KV-Lehre in der Blindenschule Zollikofen, teils auch zusammen mit Sehenden. Danach flog sie – was ihr Alpträume bescheren sollte – mit einer blinden Freundin für etliche Wochen nach England: «Swiss Mercantile School» und eine Farm. Greti Kilchenmann konnte später in Französisch und Englisch übersetzen oder Lehrlinge unterrichten.
In der Hochkonjunktur war’s einfacher, Stellen zu finden. Doch auf etliche Bewerbungen folgten Absagen: Sie könne nicht lesen – Handschriftliches. Bei Haco in Gümligen aber wurde sie angestellt. Gewiss war sie auf Hilfen angewiesen, auf technische wie auf menschliche – etwa fürs Ordnen von Dokumenten oder den Weg zur Kantine. Über ein Mobilitätstraining mit dem Langstock verfügte sie damals noch nicht.
Greti Kilchenmann zeigt ein modernes Hilfsmittel: den recht kleinen Braille-Computer, auf dem sie behend mit den Fingern Zeichen liest, der auch normal Geschriebenes umsetzt und Gesprochenes verarbeitet.
Interview mit Greti Kilchenmann
Kannst du dir Sachen und Erinnerungen visuell vorstellen?
Beim Gehen habe ich meistens eine bestimmte Route im Kopf. Nicht visuell – und doch kann ich mir einen Weg zu einem Ziel vorstellen. Als meine Augen als Kind noch Farben wahrnehmen konnten, merkte ich mir die Kantonswappen. So ist meine Erinnerung an Farben: an die einfachen, an Blau, nicht an «Kornblumenblau». Was ich nie gesehen habe, sind Gesichter, Blicke. Paradox ist, dass ich visuelle Erinnerungen, die ich habe, schneller abrufen kann als Stimmen oder Gerüche.
Was hat Licht für dich für eine Bedeutung ?
Licht ist für mich nichts Abstraktes. Ich weiss, was Licht ist, wie es aussieht – im Gegensatz zu jemandem, der blind geboren ist. Das Sonnenlicht kann ich noch sehen und auf meiner Haut spüren. Die Lampen aber sehe ich nicht mehr.
Sprichst du für dich auch von «sehen»?
Ja, wie ihr auch, freilich in übertragenem Sinn. «Ich schaue die Tagesschau.»
Siehst du einen Vorteil darin, einen Sinn weniger benutzen zu können?
Ich bin froh, dass ich mir Gewaltszenen im Film und Fernsehen nicht ansehen muss. Über die Audioversion bin ich wesentlich weniger belastet.
Können dich Geräusche irritieren?
Tatsächlich kann es sehr anstrengend werden, etwa unter vielen Leuten. Ich brauche immer wieder Ruhe und geniesse die Stille.
Wie kommst du allein im Haushalt zurecht?
Grundsätzlich haben Gegenstände in der Wohnung einen festen Platz. Für Reinigungsarbeiten hilft mir eine Putzfrau, die Wäsche mache ich selbst. Im Alltag bin ich jedoch öfters auf Hilfe angewiesen, sei es mit technischen Mitteln oder der direkten Unterstützung eines Menschen. Gerade die technischen Mittel vereinfachen alltägliche Aufgaben enorm. Eine App für Farberkennung, der «Cash Reader», der Geld erkennt, «Be my Eyes», wo eine Stimme mir einen Weg weist, oder die Sprachfunktion beim I-Phone sind sehr praktische Hilfen.
Ohne Augenlicht: Ein Selbstversuch
Gelegentlich fragen wir Sehenden uns wohl, wie wir als Blinde durchs Leben kämen. Der hier spricht,
hat sich davon sein Bild zu machen versucht.
Dies war meine Abschlussarbeit in der Rudolf-Steiner-Schule. Unter dem Leitgedanken: «Wie beeinflussen, ja erweitern extreme Situationen mein Bewusstsein?» hatte ich mir eine Reihe von Selbstexperimenten zurechtgelegt – etwa Eisbaden oder Wasserfasten (sieben Tage lang nur Wasser einnehmen).
Seriöse Vorbereitung, Umsetzung dank Unterstützung
Hier geht es um den Versuch, mehrere Tage völlig blind zu leben. Ich bereitete mich seriös vor, holte Rat bei der Blindenschule und beim Arzt, welcher mir immerhin zusicherte, die Sache gefährde meine Gesundheit nicht. Von der Schule erhielt ich einen Koffer mit Hilfsmitteln: Stock, Warnweste, Wasserfühler (um Getränke einzuschätzen), eine Uhr zum Befühlen sowie einen sprechenden Wecker – Dinge, die mir sehr nützen sollten. Wie das Handy mit Sprachsteuerung: genial, aber zeitaufwändig. Damit ich wirklich nichts sehen konnte, legte ich Schichten übereinander: Augendruckverband, schwarzen Stoff und Schlafmaske; musste ich mal wechseln, dann in einem ganz abgedunkelten Raum.
Ich verbrachte diese Tage daheim – schon die vertraute Wohnung erwies sich als tückisch. Ein Tisch stand plötzlich nicht mehr, wo ich ihn erwartete. Ich stiess an, geriet beinahe aus dem Gleichgewicht. Zum Glück war ich nicht allein; Familie und FreundInnen sprangen für mich ein, etwa um Kleider zu finden oder zu kochen. Die einfachsten Handlungen brauchten viel Zeit; die noch aktiven Sinne musste ich bewusst einsetzen lernen.
Mal meine Schule aufzusuchen, traute ich mir nicht zu. Immerhin liess ich mich auf Ausflüge ein: Die Elfenau weckte Kindheitserinnerungen, und ich setzte mich gar in ein Becken am Aarerand. Diese an sich vertrauten Erlebnisse nahmen neue Gesichter an; Wärme oder Töne traten hervor. Gerade was Geräusche betraf, taten sich mir Welten auf. Ich nahm den Atem eines Mitmenschen oder andere minimale Töne wahr – und die Kehrseite: Wo viele Geräusche zusammenkamen, überforderten sie mich, wurden ohrenbetäubend, so bei einer Autofahrt. Die Stille wurde mir immer wichtiger. Ich wollte, neben alltäglichen Beschäftigungen, neben Gesprächen, Hörbüchern oder Versuchen mit Malen, öfters nur «chly sy».
Schlafen war eigenartig! Die beiden Übergänge fielen ja weg; morgens fand ich mühsam in den Tag. Ich schlief nicht schlecht, träumte indes viel, mit grosser Klarheit.
Meine Einsichten?
Dass sich meine Achtsamkeit steigerte, das war nicht gewollt, sondern für den Alltag schlicht unerlässlich. Vertrauen gewann ich – in den Blindenstock, in die anderen Sinne, in meine Mitmenschen. Grosse Dankbarkeit überkam mich, ihnen gegenüber, aber auch für mein Leben mit den Augen.
Dies erfuhr ich am Ende der vier Tage, die ich schliesslich durchhielt. In einem vierstündigen Übergang kam ich wieder ans Licht; mit Kopf- und Augenschmerzen, aber auch einem mächtigen Staunen über die Dinge, die ich ungewohnt klar wahrnahm. Lange war ich «nur am Schauen». Ein Grund aufzuhören waren zunehmende Visionen gewesen, scharfe oder flackernde, die mir zusetzten.
Ob ich mein Experiment weiterempfehlen würde? Ich habe es nicht bereut, es hat mich bereichert. Man sollte sich allerdings bewusst sein, auf was man sich einlässt.
Genuss im Dunkeln
Wie zwei blinde Hühner pickten sie im Teller herum. Beim Besuch
im Restaurant «blindekuh» in Zürich war es schlicht unmöglich, gepflegt zu speisen. Zum Glück bekam das niemand zu Gesicht.
Nachdem alles Leuchtende im Schliessfach verstaut war, wurden wir von unserem persönlichen Kellner Marco ins tiefschwarze Restaurant geführt. Wir legten unsere Hände auf Schultern und gelangten in der Polonaise an unseren Tisch. Annemarie war froh, sass sie endlich auf dem Stuhl und wurde das befremdende Gefühl los. Darleen wurde es leicht sturm, sie brauchte einen Moment, bis sie sich in der Schwärze zurechtfand. Uns wurde erklärt, wo wir Serviette, Glas und Besteck finden, und doch tasteten wir die Tischoberfläche ab. Wir merkten, dass auf dem Set etwas in Brailleschrift geschrieben war. Da servierte Marco das Amuse-Bouche: einen Löffel mit geschwungenem Griff. Gespannt, wackelig führten wir ihn zum Mund und fühlten etwas Glitschiges in Spaghettiform – aber köstlich.
Den ersten Gang zu erraten fiel uns leicht: Randenwürfel, Käse, Baumnüsse, Gemüsechips. Zum Glück hatte Annemarie ein Stück Brot zur Hand, mit welchem sie die Gabel beladen konnte. Inzwischen war das Glas Wasser leer, wir mussten es aus der Flasche nachfüllen. Darleen fürchtete, unbemerkt danebenzuschütten, doch der Tisch blieb trocken.
Die Kartoffel-Gnocchi mit Spinat und Pinienkernen und das Apfel-Mandelküchlein schmeckten wir gut heraus. Darleen gesteht, beim Dessert ihre Hände zu Hilfe genommen zu haben. Deshalb waren wir froh, wurden zum Schluss Erfrischungstüchlein gereicht.
Wir sind uns einig: Es war anstrengend. Die Geräusche schienen besonders laut und eindringlich. Wir versuchten, uns an den Gesprächsfetzen, dem Stühlerücken und den vorbeiziehenden Gerüchen zu orientieren. Das wurde uns durch das fehlende Zeitgefühl weiter erschwert. Deshalb waren wir froh, führte Marco uns wieder ins Licht zurück – mit wunderbaren Geschmackserlebnissen in Erinnerung.