
Reto, sechzig Jahre alt und Janosh, achtzehn Jahre alt, liegen in einem Zweierzimmer im Spital. Reto hat vor vier Tagen eine Lungenoperation überstanden und Janosh muss wegen Rückenverletzungen, die er bei einem Verkehrsunfall erlitt, hier behandelt werden. Am Abend, als die BesucherInnen weg sind, kommen sie miteinander ins Gespräch.
Reto: Es scheint, dass wir beide noch einmal davonkommen. Ich musste vor der Operation angeben, ob ich Organe spenden würde, falls ich sterbe. Ich habe ihnen erklärt, dass ich ganz sterben wolle, wenn es schon sein müsse und nicht in einem andern als Einzelorgan weiterleben möchte – es sei denn, mein ganzes Hirn würde verpflanzt. Dann könnte ich die Verwandten und Freunde des Empfängers mit ganz neuen Ideen verblüffen. Das wäre doch lustig.Hättest du etwa ein Organ gespendet?

Janosh: (kramt in einer Tasche, nimmt sein Portemonnaie in die Hand und zieht ein Kärtchen hervor. Er streckt es Reto hin). Das ist mein Spenderausweis. Ich habe ihn gerade letzte Woche ausgefüllt. Nur ein paar Tage vor meinem Unfall, wer hätte das gedacht. Ich würde meine Organe schon spenden, viel- leicht kann ich so einem kranken Menschen, gerade einem jungen wie mir, zu einem besseren Leben ve helfen. Ich kann die Organe ja eh nicht mehr brauchen, wenn ich tot bin. Aber glaubst du wirklich, dass ein Teil von dir weiterlebt? Diese Vorstellung finde ich etwas gruselig!
Reto: Das Organ darf nicht sterben, sonst ist es nicht mehr transplantierbar. Organe werden dann entnom- men, wenn der sogenannte Hirntod eintritt. Der Körper zuckt dann aber trotzdem ordentlich zusammen, wenn er geöffnet wird. Von totalem Tod also keine Spur. Und die Haare und Fingernägel wachsen sogar noch einige Tage, wenn auch das Herz tot ist. Das Sterben ist eben ein Prozess, der länger als ein paar Minuten dauert. Stell dir vor, dein Herz wird transplantiert und die neue Besitzerin erlebt eine tragische Liebe nach der andern. Da leidest du als Herz doch mit, oder etwa nicht?

Janosh: Du meinst also, dass ein Stück von deiner Seele im Organ bleibt? Weil der Körper noch nicht ganz tot war, als man es herausnahm? So etwas habe ich mir gar nie überlegt (nachdenkliches Schweigen). Irgendwie kann ich mir das nicht so ganz vorstellen. Dass ein Teil von deiner Seele im Organ bleibt. Eine Seele kann man ja nicht teilen, meinst du nicht? Und wenn du stirbst, löst sie sich ja von deinem Körper und geht irgendwo hin, vielleicht in den Himmel, was weiss ich. Und bist du sicher, dass das Organ Gefühle empfindet? Vielleicht noch das Herz, aber zum Beispiel eine Niere? Was könnte eine Niere empfinden? Oder die Leber? Dafür müsste ja jedes Organ ein Bewusst- sein haben. Oder fühlst du etwa gerade jetzt, wie es deiner Niere geht?
Reto: Die meisten Organe spüren wir erst so richtig, wenn sie uns Schmerzen bereiten. Zum Beispiel bei einer Nierenkolik. Ein Schmerz ist doch ein Gefühl, oder nicht? Für die Chirurgen ist ein Herz nur eine Pumpe. Ich denke hingegen, dass alles Lebendige sowohl aus materieller als auch aus seelischer Energie besteht. Aber du hast natürlich recht: Auch wenn seelische Energie im Organ bleibt, hat sie ja kein «Ich-Bewusstsein». Organspende ist so gesehen sicher möglich. Ich formulierte meine Gedanken zur Organspende absichtlich so einseitig, damit wir das Thema nicht nur vom materiellen Standpunkt her betrachten. Seelische Probleme sind zudem bei Transplantierten nicht selten. Drehen wir die Sache einmal um: Möchtest du ein Organ eingepflanzt bekommen, wenn dein eigenes zu krank ist?

Janosh: Ich glaube, damit hätte ich schon eher Mühe. Die Organe zu spenden, wenn ich tot bin oder ein Organ von einem Toten gespendet zu bekommen sind für mich zwei Paar Schuhe. Ich hätte das schlechte Gewissen, dass es mir nur gut geht, weil jemand anderes gestorben ist. Dieses schlechte Gewissen habe ich aber nicht, wenn es darum geht, meine eigenen Organe zu spenden. Irgendwie finde ich diese Haltung selber seltsam, erklären kann ich mir das nicht. Allerdings kann ich mich nur schwer in die Situation versetzen, auf ein Spenderorgan an- gewiesen zu sein. Ich bin jung und abgesehen von meinen Unfallverletzungen gesund. Ich weiss nicht, wie ich mich verhalten würde, wenn ich jetzt eine Herzkrankheit hätte. Aber was ist denn deine Meinung?
Reto: Ich selbst möchte kein Organ eingepflanzt bekommen, weil die Lebensqualität doch sehr leidet, wenn man jeden Tag 40 Tabletten schlucken muss, um das Immunsys- tem zu unterdrücken und in ständiger ärztlicher Kontrolle ist, weil eine geschwächte Immunabwehr ja auch lebensgefährlich sein kann. In meinem Alter hätte ich auch Skrupel, so hohe Kosten zu verursachen.
Janosh: Da muss ich widersprechen. Die Kosten können wohl kaum verglichen werden mit einem Men- schenleben. Ausserdem hast du ja auch jahrelang Krankenkassenprämien bezahlt, oder etwa nicht? Aber seien wir doch froh, dass wir selbst entscheiden können, ob wir ein Spenderorgan erhalten möchten oder ob wir bereit sind, unsere eigenen Organe zu spenden! Ich finde, diese Entscheidung ist persönlich und muss respektiert werden. Es lohnt sich in jedem Fall, darüber nachzudenken.
Reto: Ich rede nur von mir und mache niemandem Vorschriften. Dann schlafe ich jetzt noch eine Runde – soll ja gesünder sein als eine Transplantation.
