Helen: Liebe Annemarie, wie hast du dich auf das Rentenalter vorbereitet?
Annemarie: Ich habe mich nie bewusst darauf vorbereitet, weil ich ja bereits Hobbies hatte und freiwillige Tätigkeiten verrichtete.
Wie erlebtest du die ersten Tage ohne Arbeit?
Als Nachtmensch bin ich etwas später aufgestanden und vor allem habe ich gefrühstückt, gemütlich, mit Zeitungslektüre. Plötzlich brauchte ich nicht mehr hetzen, ich konnte langsam den Tag beginnen. Ich empfand und empfinde das immer noch als Luxus, den ich geniesse.
Gab es irgendwann nach dem Gefühl von Ferien so etwas wie ein Tief, weil du dich vielleicht nicht mehr gebraucht fühltest?
Ich wurde ja noch gebraucht. Als Präsidentin und Produktionsleiterin bei den SchlossSpielen Thun, bei dem Menschen, den ich als Beiständin betreute und als «Verwalterin» in unserer Hausgemeinschaft. Es war aber eine grosse Erleichterung, mir dafür Zeit nehmen zu können.
Beschäftigen dich heute, fern von der Berufswelt, andere Dinge wie damals?
Es ist einfacher zu sagen, was mich nicht mehr beschäftigt. Der Umgang mit Vorgesetzten, das etwas träge System der Kantonsverwaltung, die kleinen Intrigen unter ArbeitskollegInnen. Die Drogenpolitik aber interessiert mich immer noch. Auch wenn ich nun mit Bewilligungen für Substitutionsbehandlungen (Anmerkung Helen: Ersatzbehandlung z.B. für Heroin) nichts mehr zu tun habe.
Wie sieht ein normaler Tag bei dir aus?
Wenn nichts geplant ist, was gegenwärtig die Regel ist, stehe ich um 8.00 Uhr auf. Nach der Morgentoilette frühstücke ich und kraule danach den Besuchskater eine Viertelstunde lang. Oft checke ich dann meine Mails und was mein PC sonst noch so bietet, mache etwas im Garten, telefoniere mit einer Bekannten/Freundin, räume auf, putze, geniesse eine kleine Fahrradtour oder gehe spazieren. Es gibt auch immer noch Aufgaben, die ich als Beiständin erledigen muss, denn nun betreue ich zwei Männer. Dann lese ich viel, stricke und nähe und schaue abends auch etwas fern.
Vor Corona ging ich in einer Gruppe wöchentlich walken, Freitag beim dap (Anmerkung Helen: Tanz- und Bewegungszentrum in Thun) turnen, am Montagabend Theaterprobe und dann etliche Kontakte mit lieben Menschen und Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Generationentandem.
Ein grosses Thema beim Rückzug aus dem Berufsalltag ist die Vereinsamung. Was empfiehlst du alleinlebenden PensionärInnen?
Es ist wichtig, Kontakte mit Kolleginnen weiterzupflegen. Ebenfalls eine gute Möglichkeit ist, sich einer Gruppe anzuschliessen, egal ob man zusammen singt, wandert oder malt. Soziale Kontakte zusammen mit wertvollen Beschäftigungen helfen gegen eine allfällige Vereinsamung und geben auch oft ganz neue Ideen. Ich empfehle darum sich zu überlegen, was man selbst schon immer mal machen wollte. Es ist aber auch spannend, zwischendurch etwas ganz Neues zu wagen.
Wenn du in einer Woche pensioniert würdest, was würdest du anders machen?
Gar nichts. Ich kann meine Freiheit als Pensionierte geniessen, bin ausgefüllt und zufrieden und sehr oft auch glücklich und dankbar dafür.