Ausgleich ist alles!
Mariëlle Schlunegger (24)
Kurz vor dem Schlafengehen trinke ich in der kalten Herbstzeit meinen geliebten Zitronen – Ingwertee mit Honig. In einem ungeheizten Raum unter einer Bettdecke, nicht aus Daunen bestehend, schlafe ich entspannt ein. Am nächsten Morgen ernähre ich mich von selbstgepresstem Orangensaft und einem starken, schwarzen Kaffee. Meine Mahlzeit setzt sich aus Porridge mit selbstgemachter Mandelmilch und frischen Äpfeln aus dem Garten zusammen. Seit zwei Jahre lebe ich vegan, das ist gesünder. Doch nun muss ich mich beeilen. Ich besitze kein Auto und der Weg zur Arbeit dauert länger mit dem Zug. Eng an jemand Fremdes gedrückt, erhalte ich kaum noch Luft. Es stinkt. Völlig entnervt und gestresst erreiche ich noch rechtzeitig meinen Arbeitsplatz. Heute steht eine wichtige Besprechung mit dem Abteilungsleiter des Sonderschulheims an. Als ich den Raum betrete, sehe ich vor mir lauter Bildschirm. In der Gruppe bin ich die einzige, die keinen Laptop sondern einen Block sowie eine Agenda aus Papier verwendet.
In meinem Beruf wird viel sogenannte „Psychohygiene“ betrieben, bei der ich oft mein Leben reflektiere. Der Ingwer stammt aus China, die Zitrone aus Südafrika und der Honig, so günstig wie ich ihn bei Lidl ergattere, wahrscheinlich aus Südamerika. Ebenfalls vom anderen Ende der Welt stammen die Kaffeebohnen sowie die Orangen. Hinter meinen Nahrungsmittel liegt ein langer (wahrscheinlich) Flugweg. Zur Kompensation besitze ich einen eigene Garten, der sehr zeitintensiv ist. Es wird empfohlen, mit dem Zug statt mit dem Auto zu reisen. Doch die miserablen Umstände in öffentlichen Verkehrsmittel schaden meiner emotionalen Gesundheit. Gesundes Leben findet meiner Ansicht nach nicht rein auf persönlicher Ebene statt, sondern schliesst Aspekte aus der Umwelt mit ein. Wenn ich komplett gesund leben möchte, überfordere ich mich selber. So komme ich zum Entschluss, dass ein gesunder Lebensstil für mich entspannend und ausgeglichen sein muss. Auf ökologischer Ebene gehe ich Kompromisse ein und benutze wenn möglich das Fahrrad anstelle des Trams. Mit nur dem zu Leben, was ich wirklich brauche, stimmt mich glücklich.
«Keine Ausrede! Schuhe an und los!
Telsche Keese (81)
Bewegung begeistert mich auch heute noch. Vorbei ist der Turnverein als Kind, wo ich den Schwung an den Ringen oder den Sprung über den Kasten genoss, jetzt will ich keine Kurse mehr. Das Tanzprojekt vom Berner Stadttheater im Frühling nahm ich noch wahr, aber jetzt gehe ich meine eigenen Wege. Da ich nicht Auto fahren kann, Frauen schienen mit ihrem «kleineren» Hirn Ende der 50er Jahre dafür nicht geeignet zu sein, laufe ich, solange meine Füsse mich tragen. Ich bin gleichzeitig in drei Wandergruppen .In der einen begannen wir vor über 35 Jahren, trafen uns morgens um 7 Uhr und abends kamen wir spät zurück. Bei uns Grauschöpfen heute, zwischen 75 und 90 Jahren, zähle ich zu den «Jüngeren». Judihui! Mit 72 geriet ich in eine Studie des Sportinstituts, meine Fitness wurde arg auf die Probe gestellt: Gestählte Sportstudenten blockierten meine Füsse: Sit ups mit verschränkten Armen waren gefragt und Liegestütze, beim Hochkommen musste man in die Hände klatschen! Es dauerte nicht lange, da blieb mir die Luft weg ich blieb liegen wie ein Fisch auf dem Sand.
Ich fand immer ein Zeitfenster für Bewegung. Sogar, als die Kinder klein waren, schmiss ich den Kochlöffel einfach in die Ecke und rannte um den Gurten herum. Beim Laufen hatte ich immer meine Besinnungsstunde, gute Ideen und war anschliessend erfrischt für den ganzen Tag. Leider werden die Knochen starr, und die Muskeln haben keine Lust mehr sich dehnen zu lassen, sie ziehen sich eher zusammen und sind unwillig. Jetzt spaziere ich frühmorgens vor dem Kaffee über unser Spiegelplateau, geniesse die Natur, die Jahreszeiten und das Alleinsein. Natürlich spähe ich etwas wehmütig den JoggerInnen in ihren schnittigen Outfits nach und staune über ihre elastischen Bewegungen, wenn sie an mir vorbeidüsen. Wo ist das alles geblieben?