
Streiten gehört zum Leben dazu. Teil einer Gesellschaft zu sein ebenfalls. Doch oftmals kommen wir mit Personen, die anderer Meinung sind, nur wenig in Kontakt. Wir befinden uns in unserer eigenen «Bubble». Mit Freunden und Familie diskutieren wir oft darüber, wie jetzt abgestimmt werden soll oder was ideal wäre. Wirklich beide Seiten bei einer Initiative genau anzuschauen, ihre Argumente nachzuvollziehen und sich in beide Positionen hineinversetzen, das ist schwierig zu erreichen, wenn man nur unter Gleichgesinnten ist.
«Es müsste doch Begegnungen und Diskussionen mit jemandem geben, der oder die anderer Meinung ist, einen anderen Alltag hat, sich nicht in der eigenen «Bubble» bewegt.»
Noah Werder
Es müsste doch Begegnungen und Diskussionen mit jemandem geben, der oder die anderer Meinung ist, einen anderen Alltag hat, sich nicht in der eigenen «Bubble» bewegt. Die die zivilgesellschaftliche Initiative «Lasst uns reden» von ProFuturis will genau das erreichen: Es sollen sich Menschen in einem konstruktiven Streitgespräch begegnen, die wirklich unterschiedlicher Meinung sind.
Pro Futuris, für die Zukunft
Pro Futuris, ein im Jahr 2022 gegründeter «Think + Do Tank für demokratische Kultur», setzt sich ein für eine lebendige, handlungsfähige und resiliente Demokratie. Pro Futuris analysiert die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft steht und setzt die Erkenntnisse und Lösungsansätze in konkrete Projekte um. Damit möchte Pro Futuris neue demokratische Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen in der Schweiz schaffen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Vielfalt stärken. Die Dialogreihe «Lasst uns reden» ist das erste Projekt von Pro Futuris.

Wie es funktioniert
Es sollen unterschiedliche Menschen Es sollen andersdenkende Menschen zusammengebracht werden. «Andersdenken» bedeutet in diesem Projekt eine unterschiedliche politische Meinungen zu haben. Aus diesem Grund wird jede teilnehmende Person in einem ersten Schritt aufgefordert, einen Fragebogen auszufüllen, um ihre politische Einstellung zu ermitteln. Danach werden zwei Personen, die möglichst unterschiedliche politische Positionen haben, miteinander „verkuppelt“. Das Verkuppeln geschieht mit einem vielfach getesten Algorithmus. Die zwei Personen vereinbaren dann unter sich ein Treffen, um sich auszutauschen. ProFuturis sendet allen Teilnehmenden zudem Vorbereitungsmaterialien mit Tipps und Tricks, wie trotz Meinungsverschiedenheiten ein Gespräch konstruktiv und strukturiert gestaltet werden kann.
Mit konstruktiv ist in diesem Kontext gemeint, dass miteinander ein Dialog geführt und nicht gegeneinander diskutiert wird. Es geht nicht ums Gewinnen, sondern darum, das Thema und sein Gegenüber besser zu verstehen. Mit strukturiert ist gemeint, dass man sich nicht irgendwann in der Diskussion fragen muss «Moment, über was diskutieren wird jetzt eigentlich?». Damit sollen Themenwechsel verhindert und eine Frage nach der anderen beantwortet werden. Zum Vorbereitungsmaterial gibt es ausserdem auch sehr positives Feedback.
Abgleich mit der Realität
Die Idee hinter «Lasst uns Reden» klingt toll, doch manchmal lassen sich Ideen, die toll klingen, einfach schwierig umsetzen. Wie ist es mit «Lasst uns Reden»?
«Es war es eine Herausforderung, ein genug heterogenes TeilnehmerInnenpool zu gewinnen. Bei unserer Durchführung war das links-liberale Lager übervertreten, 70% der TeilnehmerInnen war männlich und das Durchschnittsalter lag bei 50.»
Cécile Schleup
UND-Vorstandsmitglied Fritz Zurflüh (68) hatte Glück. Fritz hat einen Partner gefunden, mit ihm abgemacht, sich getroffen und miteinander gesprochen. Allerdings stellte sich heraus, dass sie bei vielen Themen gleicher Meinung sind. Schlussendlich waren ihre Positionen also gar nicht so verschieden. Fritz betont, dass das Gespräch und der Mensch, den er kennenlernen durfte, sehr spannend waren. Und er suchte auch mögliche Gründe dafür, dass er und sein Partner letzten Endes doch nicht wirklich gegensätzliche Positionen vertreten haben. Das Projekt soll Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen. Das scheint in diesem Fall nicht gelungen, doch woran liegt das? Funktioniert das Projekt nicht so wie es soll?
Eine Möglichkeit ist, dass er und sein Partner den Fragebogen zu «eindeutig» ausgefüllt haben, also im Fragebogen extremere Positionen eingenommen haben als sie in der Realität vertreten. Ein weiterer Faktor: Wenn eine Person keine Extrempositionen einnimmt, ist es natürlich schwierig, krasse Gegensätze zu finden, so dass sich die Gegensätze wirklich ergänzen würden. Bildlich gesprochen ist es für jemanden, der oder die sehr links ist einfacher einen Gegensatz zu finden, nämlich eine Person, die sehr rechts ist. Doch wenn extreme Positionen eingenommen werden müssen, um Gegensätze zu finden, lohnt sich das Projekt
dann überhaupt für Menschen, die keine extremen Positionen einnehmen?

Dem Projektteam von Pro Futuris scheint diese Herausforderung bewusst zu sein. Cécile Schluep erklärt: «Es war es eine Herausforderung, ein genug heterogenes TeilnehmerInnenpool zu gewinnen. Bei unserer Durchführung war das links-liberale Lager übervertreten, 70% der TeilnehmerInnen war männlich und das Durchschnittsalter lag bei 50. Bei weiteren Durchführungen muss das Projektteam stärker mobilisieren bei Frauen, jüngeren Personen und bei Konservativen.»
Und trotzdem scheint die erste Durchführung des Projekts ein Erfolg gewesen zu sein: 200 Menschen haben sich schlussendlich zu Gesprächen getroffen, viele Rückmeldungen waren positiv.
Gegensätzlichkeit entscheidend?
Ich denke, dass die Gegensätzlichkeit der Positionen nicht unbedingt entscheidend ist. Gewisse Personen finden schnell einen Konsens. Doch es ist lohnenswert, sich mit Leuten auszutauschen, die einen anderen Lebenskontext haben. Das war bei Fritz definitiv der Fall und auch das Spannende am Gespräch. Er merkte, dass, obwohl sie insgesamt ähnliche Meinungen hatten, ihre Lebensrealitäten ganz unterschiedlich sind. Und einen Dialog mit Menschen führen, die eine andere Lebensrealität, einen anderen Alltag haben, lässt einem die eigene Sicht auf das Leben zu hinterfragen. Übrigens: Fritz
wird dem Projekt weiternachgehen, also wieder neue PartnerInnen
suchen, um sich auszutauschen.
«Gewisse Personen finden schnell einen Konsens. Doch es ist lohnenswert, sich mit Leuten auszutauschen, die einen anderen Lebenskontext haben.»
Noah Werder

Und jetzt?
«Lasst uns reden» ist ein Projekt mit grossen Ambitionen. Es soll der Polarisierung unserer Gesellschaft entgegenwirken und eine Plattform für Menschen mit unterschiedlichen Ansichten bieten. Wie unterschiedlich diese Ansichten sind, ist vielleicht nicht das Wichtigste am Projekt. Vielmehr ist es ein Raum, um den Umgang und Austausch mit anderen Meinungen zu lernen, zu verbessern und die eigenen Meinungen zu hinterfragen.