Gold oder Bücher ?
Vincent Engler (13)
Der erste «Rausch», der mir in den Sinn kommt, ist der Goldrausch. Ich weiss von dem in Kalifornien. Dank Chaplins Film auch von einem in Alaska. Doch gab es solche in vielen Ländern.
Jemand fand Gold. Anschliessend versuchten alle ihr Glück. Die Meute liess alles stehen und liegen und machte sich auf nach Kalifornien – oder sonst wohin. Hier der Höhepunkt, eine Sucht, alle woll-ten bedingungslos Gold. Minen und Städte wurden errichtet, ein Riesenaufwand.
Wenn ich es mir recht überlege, sind andere Räusche ähnlich. Zuerst eine grosse Freude und viel Aufwand; kurz darauf vorbei. Lesen ist mein Lieblings-Beispiel. Kaum bin ich vertieft in ein Buch, ist es schon zu Ende.
Beim Goldrausch verloren viele ihr Leben oder zumindest alles Geld. Schlimm war’s vor allem für die Indianerstämme wie die Dakota. Sie wurden vertrieben oder in die ewigen Jagdgründe geschickt, bloss damit die Weissen ihr Gold bekamen, das ihnen gar nicht zustand. Nahrung war eh schon knapp…
Ich würde das als rücksichtslose Sucht bezeichnen, da sich kaum einer für das Wohlbefinden Anderer interessierte. Ist das bei jedem Rausch so? Immerhin: Es gibt nicht Hunderte von Toten, bloss weil ich meine Finger nicht von Büchern lassen kann.
Interessant scheint mir das plötzliche Ende. Die Suche nach Gold hatte mehr Tote als Glückliche hinterlassen. Die Goldgräber verliessen alles auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen statt dem ständigen Kampf ums Überleben. Leider wurde trotz dem Abgang der Eindringlinge den Eingeborenen nicht geholfen.
Geisterstädte entstanden; sie haben den Ruf, dass die Seelen der Opfer noch heute durch die Häuser streichen und deshalb keiner dort wohnen will. Doch ich vermute, es sind das schlechte Gewissen und schlimme Erinnerungen, die die Menschen davon abhalten. Ein schlechtes Gewissen gehört wohl zu einem Rausch, auch beim Lesen. Ich hätte vielleicht anderes zu tun gehabt und habe das vernachlässigt. Aber vom Bücherrausch bleiben zumindest Sehnsucht und tolle Erinnerungen.

Johann August Suter und «sein» Goldrausch
Heinz Gfeller (69)
Blaise Cendrars (1887-1961), aus dem Neuenburger Jura, war eine sehr internationale Person. Und eine «moderne», wie seine poetischen Werke ebenso belegen wie seine Künstler-Freundschaften. Cendrars’ Leben umfasst etliche dramatische Perioden, Krieg, grosse Reisen.
Da war es vielleicht zwingend, dass er sich für einen besonders farbigen Schweizer Auswanderer interessiert hat: den «General» Johann August Suter (1803-1880), der in Kalifornien als schwerreicher Ansiedler vom Goldrausch ruiniert wurde. Daraus hat Cendrars einen «modernen», einen dramatischen und farbigen Roman gemacht: «L’Or» (Gold), 1924.
Kurze Kapitel, knappe Sätze, aber auch Einbau von Dokumenten; Fakten und Emotionen.
So kurz geht’s sonst nicht. Aber es ist der Knotenpunkt des Ganzen; und wir fiebern mit. Es folgen die Kapitel über den Goldrausch – die Katastrophe in Suters Leben. Diese rauscht vorbei – im Gegensatz zu der langwierigen Vorbereitung, dem Aufstieg des aus Europa Entflohenen, der sich bis in den kaum bekannten Westen vorarbeitet, wo er mit viel Geschick seine Ländereien erwirbt und bewirtschaftet: «Neu-Helvetien». Und im Gegensatz zu seinem langen «Nachleben» als tragische, lächerliche Figur, die in endlosen Prozessen zu ihrem Recht zu kommen sucht. Ein Action-Roman, doch voller Zahlen und Namen – der Mitleid weckt, zum Nachdenken über menschliches Schicksal aufruft: ein Lese-Erlebnis.
Anmerkung: «Rush» und «Rausch» tönen so schön ähnlich; sie laufen hier zusammen. Doch eigentlich bedeuten sie nicht dasselbe: «to rush» heisst «hasten, hetzen, stürmen, rasen», was auf die Goldsucher zutraf.
Zweite Anmerkung: Wer’s kürzer haben möchte, lese bei Stefan Zweig in den «Sternstunden der Menschheit» (1927): «Die Entdeckung Eldorados» – eine komprimierte Version von Cendrars’ Roman.
Rêverie. Calme. Repos.
C’est la paix.
Non. Non. Non. Non. Non. Non. Non. Non. Non
C’est l’OR! C’est l’or.
Le rush.
La fièvre de l’or qui s’abat
sur le monde.
La grande ruée de 1848, 49, 50, 51 et qui durera quinze ans.
SAN FRANCISCO!

Und der Film dazu?
Heinz Gfeller (69)
Da wäre noch, fast gleichzeitig entstanden, ein hochberühmter Film – berühmt wegen seines Autors: Charlie Chaplins «The Gold Rush» (1925).
Chaplin hat sich einen andern von den zahlreichen «Goldräuschen» vorgenommen: den in Alaska ab 1896, wo unzählige Abenteurer unter harten Bedingungen graben gingen, nebenbei die Indianer verdrängten, die Entwicklung der abgelegenen Gegend am Yukon anstiessen. Doch um solche historische Vorgänge kümmert sich Chaplin kaum. Zu Beginn des Films zeigt er immerhin eindrücklich eine Massen-Bewegung – die Goldsucher, die sich wie eine Reihe Ameisen einen tief verschneiten Pass hinaufkämpfen. Von der eigentlichen Goldsuche bleiben nur etwas Löcher-Graben und ein Klumpen, den einer findet. Sowie, zum unwahrscheinlichen Happy End, die Möglichkeit, dass einer Millionär wird.
Ansonsten aber ist’s ein Chaplin-Film – noch nicht ein grosser wie «Modern Times» oder «The Great Dictator». Doch die Chaplin-Gestalt ist da, mit Melone und Stöckchen mitten in der Einöde («3 days from anywhere» sagt ein Zwischentext; es kommt wirklich nicht drauf an, wo); es ist ihre Geschichte, mit berührenden Bildern von ihrem Ausgesetzt-Sein, ihrer Einsamkeit, aber auch Schläue. Der Film teilt sich auf zwischen haarsträubenden Slapstick-Szenen – der Hütte etwa, die zehn Minuten lang überm Abgrund balanciert – und einer sentimentalen Liebesgeschichte. Er führt durchaus extreme Not vor, Hunger und Wahnsinn, doch in vielfach lustigen Bildern: In chaplinschen Kabinettstücken wie dem Verspeisen eines gekochten Schuhs oder dem Brötchen-Tanz am einsamen Silvester-Tisch. Wer die nie gesehen hätte, sollte sich dahinter machen!
Also: Chaplin ansehen, aber nicht, um sich über den Goldrausch zu informieren.
