Elisabeth: Eigentlich wollte ich als Beispiel für schnelles Reisen einen Wochenend-Trip an einen Touristen-Hotspot unternehmen und auf einer mehrtägigen Weitwanderung langsam reisen. Leider machte mir das Virus die ganzen schönen Pläne zunichte.
Trotzdem: Auf geht`s

Gemächliches, achtsames Gehen habe ich mir für heute vorgenommen. Ich erlaube mir eine Busfahrt in die Nähe meines Hausberges. Ich bin der einzige Fahrgast. Der Buschauffeur nimmt es mit der Abfahrtszeit nicht sehr genau, meistens fährt er jetzt ohnehin allein den Berg hoch. Ein paar freundliche, unbeschwerte Bemerkungen bezüglich der neuen Gegebenheiten – hinten einsteigen, keine Billettkontrolle, Platzverhältnisse – bleiben meine einzigen Gesprächs – Gelegenheiten während der nächsten zwei Stunden.
Ich steige aus und stelle fest, dass ich näher am Schnee bin als gedacht. Meine ursprünglich geplante Route erweist sich als noch nicht begehbar. Es ist kühl, aber angenehm. Welche Richtung soll ich nun einschlagen? Weit und breit ist ausser mir keine Menschenseele unterwegs. Ein mulmiges Gefühl macht sich bemerkbar.

Nachwinter
Ich wähle ein Natursträsschen, das durch einen schattigen Graben führt. Nach einigen Schritten komme ich an der Talstation einer Sesselbahn vorbei. Da stehen verschiedene Fahrzeuge. Starke Männer in karierten Jacken stapfen durch den Schnee. Keiner beachtet mich. Ich halte Abstand, will nicht auffallen, suche mir den Weg über die Pistenreste, trete vorsichtig auf. Die Spuren der Pistenmaschinen sind eisig, meine Wanderstöcke leisten gute Dienste. Bald ist das Strässchen erreicht. Es ist schneefrei, aber da und dort müssen gefrorene Pfützen sorgfältig umgangen werden. Die talseitige Wiese ist braun. Krokusse strecken zwar ihre Blütenkelche nach oben, halten sie aber noch geschlossen. Die Stille ist eindrücklich.

Schmelzwasser ist in der kalten Nacht gefroren und bildet heimtückische Eisbänder auf dem Strassenbelag. Die kalte Luft füllt Nasen- und Rachenraum. Nun wird die Stille unterbrochen durch das Brüllen von Rindern in einem Stall in der Nähe. Sie spüren wohl auch den Frühling und möchten ins Freie.
Der Anblick der weissen Berggipfel unter dem makellosen Blau und die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht lassen mich tief durchatmen. Zufriedenheit breitet sich aus.
Vorfrühling
Ich komme zur ersten Brücke, lausche dem Plätschern des Wassers und biege auf den Wanderweg in den Wald ab. Vogelstimmen sind zu hören: Buchfink, Meise und Amsel erkenne ich, aber die anderen? Ich müsste wieder einmal die CD mit den Vogelstimmen hervorkramen…

Den Schnee habe ich nun weit über mir gelassen, aber auch hier will jeder Schritt mit Bedacht gesetzt sein. Die knorrigen Wurzeln, die über den Pfad wachsen, sind manchmal feucht und rutschig. Die vielen Tannzapfen, von Winterstürmen heruntergerissen, rollen unter den Schuhsohlen und können einen leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Aus der Ferne ertönt das Kreischen einer Kettensäge. In den Waldlichtungen und kleinen abschüssigen Wiesen treffe ich auf erste Frühlingsboten: Leberblümchen, Waldschlüsselblumen, Pestwurz. Da und dort liegt ein verlassenes Schneckenhaus bleich im braunen Gras.

Frühling
Ich erreiche den nächsten Bach und suche mir einen Weg durch die kleine Furt. Die schattige Sumpfwiese, wo ich im Sommer Schachtelhalm sammle, ist bereits grün. Weiter oben am sonnigen Hang breitet sich ein ganzes Feld gelber Narzissen aus. Die kleinen wilden Osterglocken blühen dieses Jahr zeitig.


Der Weg ist nun trocken. Sogar die Treppe aus Holzbohlen, die bei nassem Wetter gefährlich ist, bietet kein Problem. Die Frühlingsboten werden zahlreicher. Veilchen, Wiesen-Schlüsselblumen, sogar erste Löwenzahnblüten säumen den Weg. Die Sonne nähert sich dem Zenit. Vor dem Bauernhof tummeln sich Gartenzwerge zwischen Primeln und lassen sich ihre fadenscheinigen Höschen und Kittelchen aufwärmen.

Es gilt noch den letzten Abhang zu bewältigen, zügigen Schrittes nähere ich mich dem Zuhause. Und hier, nur einige Schritte von daheim entfernt, ergibt sich doch noch ein kurzes Gespräch. Mit einer Kollegin tausche ich auf der Strasse ein paar Gedanken aus. In dieser Zeit ist jede Begegnung ein Geschenk, und dafür bin ich sehr dankbar.

Aufgeschobene Pläne
Jorina: Ja, schade, dass wir uns momentan nicht begegnen können. Auch mir hat das Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ein Blick zurück, zum 3. Januar 2020
Frisch und fröhlich ins neue Jahr gestartet, setze ich mich mit meinen Eltern an den Tisch für die genaue Planung unserer Frühlingsferien. Wir pflegen die zwei Wochen alljährlich zu nutzen, um mit unserem geliebten Wohnmobil die Welt zu bereisen. Unser Plan für dieses Jahr, eine Rundfahrt durch mehrere Länder, sieht wie folgt aus:
Der erste Halt findet in Hamburg statt. Nach zwei Tagen geht es weiter in Richtung Dänemark. Die manchmal tagelangen Fahrten machen uns nichts aus, im Gegenteil. Wir empfinden die Zeit, die es braucht, um an unser Ziel zu kommen, schon fast als meditativ. Natürlich legen wir unzählige Zwischenstopps ein: in kleinen Städtchen Kaffee trinken, atemberaubende Landschaften geniessen oder Museen besuchen. Wir haben also keine Eile.
Dann der nächste zweitägige Halt in Kopenhagen. Auch dort entdecken wir die Stadt zu Fuss oder per Fahrrad und kehren mit dem ÖV zu unserem etwas ausserhalb der Grossstadt gelegenen Campingplatz zurück. Nach weiteren Tagen der Durchreise kommen wir schliesslich am dritten und letzten Reiseziel an: Amsterdam. Auch dort gibt es einen schönen kleinen Campingplatz in Stadtnähe. Zwei Tagen nehmen wir uns Zeit, um die Stadt zu entdecken. Der letzte Zwischenstopp findet in Maastricht (Niederlande) statt. Mein persönliches Highlight: ein Bücherladen in einer alten, grossen Kirche. Auf einen gründlichen Bücherbummel folgt die Heimreise.

Jetzt aber zurück in die Gegenwart
Natürlich hat sich diese so sorgfältig geplante Reise nicht ergeben. Gerade jetzt wäre mir nichts lieber als unterwegs zu sein. Trotzdem – Hamburg, Kopenhagen und Amsterdam laufen mir nicht davon und mein Portemonnaie seufzt wohl gerade auch etwas erleichtert auf.
Ich geniesse jeweils unsere Campingferien sehr. Gerade weil wir so langsam unterwegs sind, haben wir Zeit uns zu erholen. Zu sehen, wie sich die vorbeiziehende Landschaft langsam verändert und fremd wird, ist ein aktives Miterleben, wie man sich von Zuhause entfernt. Manchmal denke ich dann an meine bisher erste und einzige Flugreise.
Kurz und knapp – meine erste Flugreise
Erschöpft wuchte ich meinen kleinen, vollgestopften Koffer auf das Laufband neben dem Schalter im Flughafen Genf. Die Frau hinter der Kasse belächelt mich ein wenig. Mit zerzausten Haaren laufe ich zum Gate. Nach wenigen Minuten darf ich bereits an Bord der riesigen Flugmaschine. Noch nie war ich in einem Flughafen und erst recht nicht in einem Flugzeug. All diese neuen Eindrücke und Töne überfordern mich ein wenig. Dann startet der Flieger. Ich werde von der Startgeschwindigkeit in den Sitz gedrückt und schon hebt die Maschine ab.
Nach einem sehr anstrengenden, zweistündigen Flug steige ich aus. Rund acht Stunden später befinde ich mich auf Malta, einer kleinen Insel mitten im Mittelmeer. Immer noch völlig aus dem Häuschen, hole ich meinen Koffer wieder ab und suche meinen Weg zum Hotel.

Die Seele kommt mit
Elisabeth: Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich erinnere mich an einen Flug in die USA noch zu Swissair-Zeiten. Nach einer Reise von nicht einmal einem ganzen Tag fanden wir uns in völlig anderen Lebensumständen wieder. Weil der grosse Zwischenraum völlig ohne Eindrücke von aussen überbrückt wurde, fehlte das Empfinden für die gewaltige Distanz.
«Es dauerte ungefähr eine Woche, bis ich den Jetlag überwunden hatte.»
Elisabeth Jost
Der Rückflug nach drei Monaten führte zwar in die vertraute Heimat, jedoch machten mir die fehlenden Stunden durch diverse Zeitzonen körperlich zu schaffen. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis ich den Jetlag überwunden hatte.
So gesehen, sollte man mit Zug und Schiff reisen, wann und wo immer möglich. Die längere Reisezeit ist angefüllt mit Eindrücken und Erlebnissen. Körper und Seele kommen zusammen an, ohne überfordert zu sein. Obschon es oft gute Gründe gibt, das Flugzeug zu nehmen, bin ich der Meinung, dass die Aufnahmefähigkeit unseres Körpers auf die Fortbewegung zu Fuss eingerichtet ist.
«Praktiziere achtsames Atmen, achtsames Gehen und tiefes Schauen und du wirst hinübergelangen zum Ufer der Freiheit und des Wohlseins.»
Thich Nhat Hanh