
Mit dem Generationentandem im Gespräch
Was geschieht, wenn sich Jung und Alt gemeinsam an Orte begeben, an denen sich die eine Generation sonst nicht aufhält? Genau solche Erlebnisse gibt’s, wenn sich Menschen verschiedener Generationen austauschen. Jana Daepp (21) und Werner Kaiser (77) haben gemeinsam die Reitschule in Bern besucht. An einem Donnerstagabend im Oktober machten sie sich auf den Weg, um dort im Restaurant zu essen und den Film «Berner Beben» zu schauen. Zu Hause waren sie dann erst nach ein Uhr am Freitagmorgen.

Ankommen – Ich fühlte mich überraschend wohl
Als Jana und ich in der Reitschule ankamen, beobachtete ich vor dem Eingang einen Dealer mit zwei Kunden. Drinnen war alles ruhig und unauffällig. Ich fühlte mich überraschend wohl.
Die etwas chaotisch anmutende Einrichtung mit den vielen Malereien und Graffitis kam mir vertraut vor, hatte ich doch damals in Paris mit den Achtundsechzigern sympathisiert. Das Ganze war ja nicht nur Chaos, sondern auch Ausdruck von Kreativität: Jede und jeder kann hinschreiben oder malen, was und wie es ihm oder ihr richtig scheint: bunt, fantasievoll, witzig, spontan, wenn auch nicht den Massstäben bürgerlicher Ordnung und Sauberkeit entsprechend.
Niemand schaute mich mit meinen 77 Jahren verwundert an. Wir bewegten uns im Raum, ohne aufzufallen. Im grossen Vorraum standen Gruppen von Männern mit dunkler Hautfarbe und diskutierten. Im Restaurant «Sous-le-Pont», wo wir das Nachtessen einnahmen, war abgesehen von den lauten Stimmen alles geordnet. Mir fiel die grosse Zahl der anwesenden Frauen auf, die meisten in unauffälliger Kleidung. Das Essen war schmackhaft und schön präsentiert. Die Preise sind relativ hoch, abgesehen von einem Menu für Wenig-Verdienende, das für 8 Franken zu haben ist.
Dass die Reitschule auch Probleme hat, ist mir klar. Gewalt, Provokation gegen die Polizei, Drogenverkauf, Sachbeschädigung – all dies ist in der Reitschule unerwünscht, geschieht aber. An diesem Abend aber bleibt es ruhig.

Der erste Schritt… | Weil jeder hier seinen Platz findet
Es sind Schwellen, die es zu übertreten gilt, um überhaupt erst in die Reitschule zu kommen. Da ist zuerst der eigene Schatten, den es zu überspringen, dann die Schützenmatte, an der es vorbeizugehen gilt, und da sind auch die Gestalten, an denen vorbeizukommen ist.
Diese Gestalten, die sonst nirgends erwünscht sind, verbringen einen Grossteil ihrer Tage vor der Reitschule, weil sie einzig hier geduldet und sogar akzeptiert werden. Hat man dann seinen Fuss in den Hof gesetzt, sieht man Paare, Gruppen, junge hübsch gekleidete Frauen, Punks, Menschen, die aus Hippiezeiten zu stammen scheinen, Afrikaner, die in mir nicht verständlichen Sprachen sprechen.
Und immer mehr wird einem klar, dass hier alle gleich sind. Es ist egal, woher du kommst, wie du aussiehst oder was du denkst; es ist egal, wohin du gehst, aber jetzt bist du hier, und das ist gut so. Alle werden respektiert und in Ruhe gelassen, weil alle hier ihren Platz finden. Als wir zusammen an einem kleinen Tischchen im Restaurant sassen, merkte ich, dass sich Werner entspannt hatte.
Ich war neugierig, wie die Leute reagieren würden, wenn ich mit einem 77-jährigen Mann im Schlepptau auftauchte. Zwar wusste ich aus Erfahrung, dass hier alle Menschen willkommen sind und dementsprechend auch Menschen aus unterschiedlichsten Umfeldern und jeden Alters anzutreffen sind.
Wie ich gehofft und erwartet hatte, war das absolut kein Problem und ich merkte bald, dass auch Werner sich wohl fühlte.

Entwicklung | Vom Protest zu den AJZ
Es ist hilfreich, die Ereignisse der 80er-Jahre im Zusammenhang mit den Jugendrevolten von 1968 zu verstehen. Damals rollte eine von jungen Menschen in Bewegung gebrachte Protestwelle durch die Länder der westlichen Welt. Ich war damals in Paris und erlebte intensiv mit, wie an einem Abend in der gleichen Strasse hundertfünfzig Autos brannten, aber auch wie in den Hörsälen der Universitäten und auf den Strassenkreuzungen über Wege zu einer gerechteren Gesellschaft diskutiert wurde. Man glaubte, jetzt sei es möglich, eine Gesellschaft jenseits des verlogenen «Establishments», jenseits von Vietnamkrieg und Ausbeutung aufzubauen. Das rote Büchlein von Mao wurde gelesen, in dem er den neuen, sozialen Menschen ankündigte.
Bewegung der 80er-Jahre
Die Revolution von 1968 war äusserlich gescheitert, in sich zusammengefallen, auch wenn – nachträglich betrachtet – vieles weiterwirkte. Der Glaube an einen neuen, besseren Menschen war gebrochen. Die Jugend richtete sich ein und kämpfte dafür, in dieser korrupten Gesellschaft wenigstens Freiräume zu schaffen, wo sie auf ihre Art, basisdemokratisch und frei, ihre Vorstellungen leben konnte. In verschiedenen Städten Europas kämpfte man für ein autonomes Jugendzentrum, das AJZ. In diesen Freiräumen brodelte der Protest gegen soziale und politische Missstände weiter: gegen Abbruch günstiger Wohnungen, Atomkraftwerke, Rassismus und die noch bestehenden Repressionen verschiedenster Art.
Kampf um die Reitschule
In diesem Zusammenhang ist auch die Entstehung der Reitschule in Bern zu verstehen. Ein erstes Jugendzentrum wurde schon 1971 im Gaskessel eingerichtet. Im Juni 1980 fand in Zürich der Opernkravall statt: Man protestierte heftig gegen die Tatsache, dass für die Oper Millionen eingesetzt wurden, während es für die Jugendkultur kein Geld gab. In Bern gab der Abriss von Häusern Anlass zu Kravallen.
Die Geschichte der Berner Jugendbewegung ist gezeichnet von Protesten, Demonstrationen, Häuserbesetzungen, Gewalt und Repression. Die Reitschule wurde geöffnet, wieder geschlossen, polizeilich bewacht. Eine Volksinitiative verlangte, die Reitschule definitiv zu schliessen; sie wurde mit 57,6 Prozent abgelehnt. Die Bewegung weitete sich aus im Konflikt um das illegale Wohnprojekt Zaffaraya. Auch das rief wilde Aktionen auf beiden Seiten hervor. Aufgrund vieler Initiativen aus der Zivilgesellschaft und der konstruktiven, noch heute bestehenden Projektgruppe IKuR bewilligte der Gemeinderat schliesslich «auf Zusehen hin» das Kulturzentrum Reitschule.
Mit finanzieller Hilfe der Stadt und mit viel Freiwilligenarbeit wurde das Gebäude renoviert. Seit 2004 besteht zwischen Stadt und Reitschule ein Vertrag.
Die Reitschule heute | Nur wer sie kennt, weiss, was sie bewirkt
Wer heute die Reitschule besucht, ist überrascht von der Vielfalt der kulturellen Angebote. Kino, Frauenraum, Flohmarkt, Infoladen, Theater, Restaurant, Bar, Bibliothek, Druckerei, Zeitschrift sind feste Institutionen; dazwischen laufen Programme verschiedenster Art wie Poetry Slams, Konzerte, Tanzpartys, Vorträge, Workshops. Organisatorische Einrichtungen garantieren den geordneten Ablauf: Vollversammlung, Koordinationsgruppe, Betriebsgruppe, Arbeitsgruppen. Es gibt eine Wirtin, einen Sicherheitsbeauftragten, einen Buchhalter und einen Abwart. Ein Manifest definiert die Ziele und die Spielregeln: kein Rassismus, kein Sexismus, keine physischen, psychischen oder sexuellen Übergriffe, keine Homophobie, keine Ausbeutung und Unterdrückung, keine Selbstbereicherung, kein Konsumzwang; dafür aber gewaltfreie Konfliktlösung und respektvolles Verhalten. Das Ganze wird getragen vom Verein «Interessensgemeinschaft Kulturraum Reitschule IKuR».
Die Reitschule wird weiterhin Konfliktstoff bieten. Den gäbe es ohne Reitschule allerdings auch. Nur wer in den Betrieb hineingesehen hat, kann abschätzen, was die Reitschule an Gesprächskultur, Konfliktlösung und Gewaltprävention bewirkt.
Die Vorurteile über den «Schandfleck» |
Gewalttätige Jugendliche! Chaoten-Demos! Drogendelikte!
Immer wieder erscheint die Reitschule in den Medien – meistens im negativen Sinne. Schade eigentlich, denn warum genau die gewalttätigen Leute dort sind und was es für Menschen sind, fragen sich die wenigsten. An diesem Ort wird niemand ausgeschlossen, der sich an die Spielregeln der Lokalität hält. Die sogenannten Chaoten benehmen sich innerhalb der Reitschule wie ganz normale Menschen und geben keinen Anlass dazu, sie rauszuwerfen.
Jedoch hat ihre Gewalt auch nichts mit der Reitschule an sich zu tun, es ist nur der Ort, an dem sie nicht rausgeworfen werden. Fälschlicherweise wird oft die Reitschule als Organisation kritisiert, welche nur einen offenen Raum für Jede und Jeden bietet.
Die Meinungen vieler Organisatoren mögen radikal sein, der Zweck der Reitschule ist und war jedoch nie, Gewalt zu stiften. Sie ist ein soziales, kulturelles Zentrum, welches die Hoffnung auf eine bessere, friedliche, geldlose und gerechte Welt nicht aufgegeben hat und wo alle, egal wie sie aussehen oder sich verhalten, ihren Platz haben, solange sie selbst auch Jeden und Jede dort akzeptieren.