Der Begriff Risiko bezeichnet Schäden, die potenziell entstehen können, wenn man einer Gefahr ausgesetzt ist. Der Schaden kann, muss aber nicht eintreten. Man kann Risiken mathematisch berechnen, indem man die Grösse des Schadens mit der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens multipliziert. Gemäss derartiger Berechnungen ist zum Beispiel das Risiko, mit einem Flugzeug abzustürzen, sehr gering. Im zivilen Luftverkehr sterben weltweit etwa 550 Menschen pro Jahr. Dagegen sterben laut Weltgesundheitsorganisation WHO jedes Jahr etwa 1,4 Millionen Menschen durch Verkehrsunfälle. Das Risiko, beim Fliegen tödlich zu verunglücken, ist also viel geringer als beim Autofahren. Dennoch haben mehr Leute Angst zu fliegen als vor dem Autofahren.
«Das Risiko, das uns umbringt, ist nicht unbedingt
Peter Sandman
das Risiko, das uns ängstigt.»
Menschen habe kein natürliches Gefühl, kein Sinnesorgan für Risiken, sondern Risiken sind ein Konstrukt unsere Wahrnehmung. Was für den einen ein Risiko ist, muss für den anderen noch lange keines sein. Unser Wissen, unsere Emotionen, unsere Erfahrungen und unsere Persönlichkeit bestimmen diese subjektive Risikowahrnehmung. Der Risikoforscher Peter Sandman hat das einmal so formuliert: «Das Risiko, das uns umbringt, ist nicht unbedingt das Risiko, das uns ängstigt.»
Welche Faktoren beeinflussen unsere Risikowahrnehmung?
Eine Reihe von Faktoren spielen eine Rolle. So werden natürliche Risikofaktoren oft als weniger gefährlich eingestuft als künstliche, vom Menschen verursachte Risiken. Man bezeichnet das auch als den «Mythos der gütigen Natur». Das mag deutlich werden an der Einschätzung des Risikos, das von Schimmelpilzgiften (sogenannten Mykotoxinen) und Pestiziden in der Nahrung ausgeht. In einer Umfrage unter der Schweizer Bevölkerung (DemoScope 2021) empfanden 56 Prozent der Befragten Pestizide als Risiko (damit wurden Pestizide an zweiter Stelle genannt – hinter Antibiotika), Schimmelpilze dagegen schätzen nur neun Prozent der Befragten als Risiko ein. Wie sieht die Realität aus? Schimmelgifte finden sich regelmässig in vielen Nahrungsmitteln, beispielsweise in Tomatenerzeugnissen. Eine Untersuchung mehrerer Kantonslabore zeigte, dass in 38 von 54 untersuchten Tomatenerzeugnissen – von Pelati über Ketchup bis Tomatenpüree – Schimmelpilzgifte vorhanden waren, teilweise in erheblichen Mengen. Die Mykotoxine gelangen durch das Verarbeiten von angeschimmelten Tomaten in die Produkte; dabei werden die Gifte durch die hohen Temperaturen beim Pasteurisieren oder Kochen nicht zerstört. Es ist eindeutig nachgewiesen, dass Schimmelpilzgifte zu Leberschäden und insbesondere zu Leberkrebs – eine der tödlichsten Krebsarten – führen können. Dennoch denken wir beim genussvollen Verzehr einer Pizza kaum daran, dass sie vielleicht Mykotoxine enthält und wir damit ein Risiko eingehen, Leberkrebs zu bekommen.
«Wovor haben wir mehr Angst – vor Pestiziden an Äpfeln oder vor einem Schlaganfall
nach einem herzhaften Steak?»
Bleiben wir bei der Ernährung: «ungesundes» Essen, also zu zuckerreich, zu fettreich, zu kalorienreich. Auch in einer Umfrage von «Eurobarometer» an fast 30‘000 Europäern wurden Chemikalien wie Pestizide in der Nahrung als grösstes Risiko genannt (19%). Nur sieben Prozent der Befragten nannten ungesunde Nahrung als Risiko. Dabei trägt diese massiv zu Krankheiten und Sterblichkeit bei. Die «Global Burden of Disease»-Studie vor einigen Jahren zeigte, dass in Industrieländern jeder fünfte Todesfall auf ungesunde Ernährung zurückzuführen ist. Herz- und Kreislauferkrankungen sind die häufigste Todesursache in der Schweiz (etwa 40‘000 Tote pro Jahr). Der Verzehr von rotem Fleisch ist mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden. Wovor haben wir aber mehr Angst – vor Pestiziden an Äpfeln oder vor einem Schlaganfall nach einem herzhaften Steak?

Ein weiterer Faktor, der unsere Risikowahrnehmung beeinflusst, ist der sogenannte «optimistische Fehlschluss», nämlich die Annahme, dass ein zu erwartender Schaden nur den anderen geschieht. Zwar sterben jährlich etwa 9500 SchweizerInnen als Folge des Rauchens, dennoch halten nur knapp ein Fünftel der RaucherInnen den Konsum von Tabak für ein hohes Gesundheitsrisiko. Man weiss zwar, dass Rauchen tödlich sein kann, denkt aber kaum, dass dies einen selbst betreffen wird.
Auch wie häufig ein Schaden eintritt, beeinflusst die Risikowahrnehmung. Die Studie «Todsicher: Die Wahrnehmung und Fehlwahrnehmung von Alltagsrisiken in der Öffentlichkeit» hat gezeigt, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Terroranschlages 30-fach überschätzt wurde, während die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Leitungswasserschadens 275-fach unterschätzt wurde. Terroranschläge sind selten, haben allerdings grosse Folgen und finden viel mediale Aufmerksamkeit – sie werden überschätzt. Leitungswasserschäden treten dagegen relativ häufig auf, der Schaden ist meist überschaubar und die mediale Aufmerksamkeit hält sich in Grenzen. Solche Risiken werden gerne unterschätzt.
«Risikowahrnehmung ist ein Persönlichkeitsmerkmal, ähnlich dem Intelligenzquotienten.»
Auch die eigene «Risikopersönlichkeit» beeinflusst die Einschätzung von Risiken: Bin ich eher der ängstliche Typ, der sein Geld lieber auf dem Bankkonto lässt, oder bin ich eher der risikofreudige Typ, der in Aktien spekuliert? Risikowahrnehmung und -bereitschaft sind ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal, ähnlich dem Intelligenzquotienten.
Das Truthahn-Paradoxon
Unsere Fehlleistungen bei der subjektiven Risikowahrnehmung werden auch anhand des sogenannten Truthahn-Paradoxons deutlich: Truthähne werden in den USA traditionell an Thanksgiving geschlachtet. Zuvor werden sie aber über mehrere Monate gehalten und gefüttert, um ein gutes Schlachtgewicht zu erreichen. Für einen Truthahn, der jeden Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, wächst damit täglich die subjektive Sicherheit, dass es der Besitzer gut meint und dass es am nächsten Tag wieder Futter geben wird. Mit jedem Tag näher zu Thanksgiving steigt die subjektive Sicherheit des Truthahns, obwohl sie ja objektiv sinken müsste. Der Truthahn erstellt jedoch seinen bisher positiven Erfahrungen eine Prognose und kann daher das unerwartete Risiko nicht einkalkulieren. Ein reales Beispiel für das Truthahn-Paradoxon ist der Unfall der Titanic: Die Passagiere auf der Titanic fühlten sich sicher, da sie auf einem der modernsten Schiffe unterwegs waren. Mit jedem Tag, mit dem die Titanic ohne Unfall unterwegs war, stieg das Vertrauen in das Schiff und in die Fähigkeit des Kapitäns und der Mannschaft, das Schiff sicher zu führen. Bis dann der unerwartete Eisberg kam…