Es ist ein schöner, sonniger Tag. Die letzte Strecke zum Ziel unserer Recherche-Expedition absolvieren wir mit dem Schiff. Seit Mitte März dieses Jahres präsentiert das Verkehrshaus in Luzern nämlich eine neue Dauerausstellung – «Powerfuel» – über nachhaltige Treibstoffe der Zukunft. Nach einem interaktiven Spiel, in dem wir virtuell Wasserstoff herstellen und eine Tankstelle auffüllen, sind wir bereit, in die Welt des Wasserstoffs noch etwas tiefer hineinzutauchen. Los geht’s!

im Verkehrshaus Luzern – Bild: Walter Winkler
Das kleinste Molekül soll endlich Grosses vollbringen
Wasserstoff ist das häufigste Element im Universum und Bestandteil von Wasser. Wasser kann durch elektrischen Strom in Wasserstoff und Sauerstoff gespaltet werden. Dieser Prozess wird Elektrolyse genannt. Der Begriff Power-to-Gas steht für ein Konzept, bei dem überschüssiger, erneuerbar produzierter «grüner» Strom verwendet wird, um Wasserstoff per Elektrolyse von Wasser zu produzieren und bei Bedarf in einem zweiten Schritt unter Verwendung von Kohlenstoffdioxid (CO2) in synthetisches Methan umzuwandeln. Diese synthetischen Energieträger werden in Zukunft eine grosse Rolle spielen, um Erdöl, Erdgas und Kohle zu ersetzen.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts schrieb Jules Verne in seinem Buch über die Brennstoffzelle: «Das Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.» Das Prinzip der Brennstoffzelle wurde 1838 von Christian Schönbein an der Universität Basel erfunden. Nur 13 Jahre nach der ersten kommerziellen Fahrt einer Dampflokomotive. Es basiert auf der Reaktion von Wasserstoff mit Sauerstoff zu Wasser. Dabei wird elektrische Energie gewonnen, die von einem Wasserstoffauto gebraucht wird. Das Betanken eines Wasserstoffautos dauert drei bis fünf Minuten. Zudem ist die Reichweite von Wasserstoffautos deutlich höher als bei mit Akkus ausgerüsteten E-Autos.
«Je nach Anwendung hat jeder Energieträger seine Vorteile. Es ist sehr schwierig die einzelnen gegeneinander zu werten. Zudem brauchen wir neue Ideen.»
Dr. Brigitte Buchmann
Wir haben mit Frau Dr. Brigitte Buchmann (62), Direktionsmitglied der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa in Dübendorf, Leiterin das Departements Mobilität, Energie und Umwelt sowie Verantwortliche für «move», dem Demonstrator für künftige Mobilität, über Wasserstoff gesprochen. Wie schätzt sie wohl die Möglichkeiten von Wasserstoff für die Energiezukunft ein?
Können sie folgenden Satz unterschreiben: «Wasserstoff gilt, wenn er mithilfe von erneuerbaren Energien hergestellt wird, als beste Waffe im Kampf gegen den Klimawandel»?
Wenn wir die Klimaziele (1–2°C Erderwärmung) erreichen wollen, dann brauchen wir alle Massnahmen. Wasserstoff ist ein Energieträger, allerdings nicht der einzige und vielleicht langfristig nicht der wichtigste. Je nach Anwendung hat jeder Energieträger seine Vorteile. Es ist sehr schwierig die einzelnen gegeneinander zu werten. Zudem brauchen wir neue Ideen. Wenn wir an die Industrie denken, ist es bei vielen Prozessen schwierig, die CO2-Emissionen auf null zu reduzieren. Wir müssen negative Emissionen generieren, um das Netto-Null-Ziel 2050 erreichen zu können.

Wie funktioniert Mobilität in der Zukunft ohne fossile Energie? Welche Rolle spielt dabei Wasserstoff?
Am wichtigsten ist, dass die Energie für die Fahrzeuge aus erneuerbaren Quellen stammt – also von der Sonne, vom Wind, aus der Wasserkraft oder aus biologischen Abfällen. Um damit Treibstoffe für die Mobilität herzustellen, gibt es mehrere Wege. Der effizienteste Weg ist die Nutzung von Sonnenenergie direkt für die Elektromobilität. Wir haben aber das Problem mit der Speicherung des Stroms. Bei der weniger effizienten Wasserstoffenergie können wir dafür den Energieträger besser speichern. Die dritte Möglichkeit ist, den Wasserstoff zusammen mit dem CO2, sei es aus Kaminen von Industriebetrieben, aus der Luft oder aus dem Ozean, in synthetische Treibstoffe, sogenannte SynFuels, umzuwandeln. Die SynFuels haben den grossen Vorteil, dass man sie länger speichern kann und dass die existierenden technischen Anlagen genutzt werden können. Wir demonstrieren an der Empa in «move» diese neuen Möglichkeiten der Mobilität, die wir zusammen mit Partnern aus der Industrie und mit Flottenbetreibern in der Praxis ausprobieren. So sammeln wir Erfahrungen.
«Es zeigt sich klar, dass Wasserstoff für Fahrten mit grossen Lasten und bei grossen Steigungen einen Vorteil hat gegenüber der Elektromobilität.»
Dr. Brigitte Buchmann
Was ist der Vorteil dieser vom Wasserstoff kommenden Treibstoffe gegenüber der Elektromobilität?
2050 wird Elektromobilität vermutlich der Hauptanteil sein. Ein Drittel könnten synthetische Treibstoffe sein, rund ein Sechstel Wasserstoff selbst. In der Übergangszeit ist Wasserstoff ein Träger, den wir für Logistikfahrten einsetzen. Bei Lastwagentransporten, wo Punkt-zu-Punkt-Fahrten stattfinden, braucht es nicht viele Tankstellen. Die Elektromobilität reicht für solche Fahrten mit schwerer Last oft nicht. Wir haben zum Beispiel für einen grossen Logistiker in der Schweiz ein Flottenmodell ausgerechnet. Da zeigt sich klar, dass Wasserstoff für Fahrten mit grossen Lasten und bei grossen Steigungen einen Vorteil hat gegenüber der Elektromobilität.

Welche Herausforderung birgt die Speicherung von Wasserstoff?
Die Speicherung von Wasserstoff braucht einen relativ grossen technischen Aufwand. Zudem brauchen wir dazu sehr hohe Drucke. Bei uns in der Empa speichern wir bei 900 bar. Das wird teuer und es braucht Energie, um die Tanks so stark aufzupressen. Früher durfte man Wasserstoffleitungen ausschliesslich schweissen. Nun haben wir zusammen mit einem Hersteller von Gasleitungskupplungen herausgefunden, dass gewisse Kupplungen auch für Wasserstoff möglich sind. So können wir die Anlagekosten durch solche Forschungsresultate reduzieren. Jede verschweisste Leitung ist fix. Wenn eine neue Anlage gebaut wird, muss nicht alles demontiert und neu verschweisst werden. Die in «move» erforschten Kupplungen wurden von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt anerkannt und zugelassen.
Als Speicher für Wasserstoff werden auch Hydride erachtet. Wie funktionieren Hydride?
Metallische Hydride sind Stoffe, die Wasserstoff wie ein Schwamm aufsaugen und wieder abgeben können. Diese Art von Wasserstoffspeicherung ist für Fahrzeuge nicht optimal, weil der Energieträger nicht schnell genug abgegeben werden kann. Deshalb wird Hydridespeicherung eher in den stationären Anlagen verwendet.
«Wir verfügen über genügend Energie auf der Erde, allerdings stellt die Verteilung eine Herausforderung dar.»
Dr. Brigitte Buchmann
Wird Wasser, die wichtigste Ressource zur Wasserstoffgewinnung, nicht zu knapp mit der Zeit?
Kann auch das Salzwasser der Meere und Ozeane zur Wasserstoffgewinnung genutzt werden?
Die Menge des Wassers, die für die Elektrolyse gebraucht wird, um den Wasserstoff zu generieren, ist vernachlässigbar. Wenn wir aber an die Grenze stossen würden, könnten wir den Wasserstoff auch aus Salzwasser gewinnen. Es gibt Projektideen mit Solarinseln auf dem Meer. Dort wird das Meerwasser für die Elektrolyse genutzt und das CO2 dem Meerwasser entnommen. Aus Wasserstoff und CO2 wird Methanol als flüssiger Treibstoff produziert.
Wie muss man sich das vorstellen? Wie gross sollen solche Inseln sein?
Sie werden relativ gross sein. Jede Anlage bestünde aus 70 Plattformen, die einen Durchmesser von 50 bis 100 Meter hätten. Bisher wurde noch keine solche Anlage realisiert. Wir verfügen über genügend Energie auf der Erde, allerdings stellt die Verteilung eine Herausforderung dar.

Bis 2035 will Airbus ein Passagierflugzeug auf dem Markt haben, dass dank Antrieb mit Wasserstoff komplett CO2-neutral fliegt. Welche Herausforderungen stellen sich den Machern?
Die technischen Herausforderungen der Betankung mit Wasserstoff und der Tanks im Flugzeug sind gross. Die Zertifizierung der Flugzeuge mit neuen technischen Elementen ist enorm aufwändig. Mit synthetischen Treibstoffen kann die vorhandene Infrastruktur genutzt werden. Bei Wasserstoff für den Flugverkehr bin ich skeptisch. Anders sehe ich es bei der Schifffahrt, wo Wasserstoff schon jetzt vermehrt als Energieträger eingesetzt wird.
Klimafreundlichere Technologien müssen noch schneller entwickelt werden. Welche Rahmenbedingungen sind dafür nötig? Was könnte die Politik tun?
Wir kennen in der Schweiz schon Lenkungsabgaben, die erweitert werden müssen. Im neuen CO2-Gesetz ist das so vorgesehen. Wir werden neue Lenkungsabgaben einführen, dazu einen Klimafonds schaffen, aus welchem neue Technologien gefördert werden können. Dazu gehören auch Technologien, die zu negativen CO2-Emissionen führen. Mit dem neuen Gesetz sind wir auf einem guten Weg. Hilfreich ist sicher auch, dass damit die Emissionen für Fahrzeuge gesenkt werden und die Abgaben für die Überschreitung dieser Zielvorgaben laufend erhöht werden sollen. Das sind alles Instrumente, die wir brauchen, damit wir schneller vorankommen, um das Ziel Netto-Null-Emissionen 2050 zu erreichen.
Die Zukunft hat begonnen
Neue Wasserstofftechnologien werden intensiv erforscht, bekannte weiterhin optimiert und in der Praxis umgesetzt. Seit 2018 wird in der Schweiz ein europaweit einzigartiges Wasserstoff-Ökosystem für emissionsfreie Mobilität realisiert. Das Geschäftsmodell basiert auf rein privatwirtschaftlichem Engagement, initiiert durch H2 Energy. Es beinhaltet Produktion und Beschaffung von grünem Wasserstoff, den Aufbau der notwendigen Betankungsinfrastruktur, die Einfuhr von Brennstoffzellen-LKWs sowie das Bekenntnis von Logistik- und Transportunternehmen, künftig Brennstoffzellen-LKWs einzusetzen. Letzten Januar erhielt dieses Wasserstoff-Ökosystem den renommierten Schweizer Energiepreis Watt d’Or 2021 in der Kategorie «Energieeffiziente Mobilität».
Seit Frühjahr 2021 gibt es in der Schweiz sechs Wasserstoff-Tankstellen, die auf der Ost-West-Achse (Bodensee–Genfersee) liegen. Bis Ende 2023 ist ein flächendeckendes Netz von solchen Tankstellen geplant.

Die schweizweit grösste Elektrolyseanlage, seit Frühjahr 2020 in Betrieb, nutzt grünen Strom des über 100-jährigen Alpiq-Wasserkraftwerks in Gösgen. Pro Jahr werden in der 2-MW-Anlage rund 300 Tonnen Wasserstoff produziert, was dem Jahresverbrauch von 40 bis 50 LKWs oder rund 1700 Personenwagen entspricht. Anfang Oktober 2020 wurden die ersten Xcient Fuel Cell Trucks von Hyundai im Verkehrshaus Luzern an Kunden übergeben, zu denen Coop, Migros und Agrola gehören. Bis jetzt lieferte der südkoreanische Hersteller 50 Wasserstoff-LKWs vom Typ «Xcient» in die Schweiz, wovon 20 in Betrieb genommen wurden. Damit hätten schon 130 Tonnen CO2 eingespart werden können. Um Speditionsunternehmen den Umstieg auf Wasserstoff-Trucks zu erleichtern, werden die LKWs nicht verkauft, sondern über ein Pay-per-Use-Modell angeboten. So fällt die teure Anfangsinvestition in die Fahrzeuge weg, die Transportunternehmen bezahlen lediglich eine Mietgebühr für die gefahrenen Kilometer. Das betriebliche Risiko hingegen trägt der Lieferant des Fahrzeuges. Bis 2025 sollen 1600 Wasserstoff-LKWs von Hyundai in der Schweiz im Einsatz sein.