Aus dem Buch
Ein Oberarzt erläutert die Spital-Visite: «… dir bleiben zehn Minuten pro Patient, das muss reichen. Du musst effizient sein.» Die angehende Ärztin denkt sich dazu: «Zehn Minuten pro Patient: … für verwirrte, fremdsprachige, verängstigte Patienten; für neu eingetretene Patienten, deren Dossier ich noch nicht gelesen habe; für Patienten, bei denen Komplikationen auftreten; und um sich mit den Pflegefachpersonen zu besprechen; die Laborwerte und Medikamente durchzusehen; mit dem Patienten zu sprechen und ihn zu untersuchen; die Verordnungen zu machen und um empathisch zu sein! … 20 Sekunden für Empathie, oder wie?»
«Im Fokus des Handelns sollen, über die Krankheit
hinaus, der Patient und sein Wohlbefinden stehen.» – Bruno Kissling
Und der erfahrene Hausarzt meint: «Wir fürchten, dass die Medizin den Arzt, die Technik den Menschen ablöst. Wir ahnen, dass die Medizin zwischen zwei extremen Positionen steckt: zwischen nutzbringendem Fortschritt für den Menschen und einem Selbstzweck, der sich selber im Fokus hat und sich dazu am Menschen als Forschungsobjekt bedient.» Diese Aussagen befinden sich im Buch, das aus dem Briefwechsel zwischen der jungen Medizinerin Lisa Bircher (32) und dem fast pensionierten Bruno Kissling (69) entstanden ist. Ein echtes Generationen-Unternehmen. Auf die Frage: «Was hast du vom Andern gelernt?» sagt Bruno Kissling: auf sich selbst zu hören; auch zu Beginn einer Karriere unerschrocken zu reflektieren. Und Lisa Bircher, die Jüngere: Schritt für Schritt vorzugehen, auch wenn man hohe Ziele verfolgt.
Um hohe Ziele geht es den beiden nämlich. Sie bleiben nicht bei der Kritik am heutigen Gesundheitswesen, namentlich in den Spitälern, sondern sie entwerfen ein positives Bild der Medizin.
«Im Fokus des Handelns sollen, über die Krankheit hinaus, der Patient und sein Wohlbefinden stehen, seine persönlichen Vorstellungen über sein Gesundsein sowie seine persönlichen Erwartungen und Prioritäten. Der Patient soll zur Selfcare ermächtigt werden. Er soll massgeschneidert – nicht diagnosebezogen und automatisiert – dort Hilfe erhalten können, wo er selber nicht zurechtkommt und sie braucht» (Kissling, Seite 61).
«Ich stelle mir eine Medizin vor, die den Menschen dient und sie zu sich selbst zurückbegleitet, statt als Handlangerin überhöhter Hoffnungen und falscher Vorstellungen aufzutreten. Ich wünsche mir, dass wir, die diese Medizin anbieten, uns Fragen zu unserem eigenen Leben stellen, und auch zu unserem Tod. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich mit kranken Menschen arbeiten darf, dass ich als Begleiterin in entscheidenden Momenten dabei sein darf, voller Demut und Respekt dafür, was diese Menschen erleben» (Bircher, Seite 108).
Wird es viel brauchen, um ähnliche Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen? Ja, meint Bruno Kissling – zum Beispiel einen «Aufstand der AssistentInnen». Bei Studierenden sei viel Bereitschaft vorhanden, nur werde sie im Spital oft abgewürgt. Immerhin gibt’s positives Echo an der Buchvernissage: «Ich sehe hier Mut, und ich erhalte Mut. Es gilt, sich Verbündete zu holen.»
Das Buch: Lisa Bircher, Bruno Kissling: «Ich stelle mir eine Medizin vor…». Rüffer und Rub Sachbuchverlag Zürich, 2018.
Bruno Kisslimg im Interview: «Junge in die Hausarztmedizin führen!»
UND: Sie zeichnen ein optimistisches Bild der PatientInnen. Sind «durchschnittliche» PatientInnen dem gewachsen?
Bruno Kissling: Die Patienten sind den Ärzten nicht unterlegen. Die Begegnung zwischen Arzt und Patient ist ein Expertentreffen. Der Patient ist Experte für sein Symptom/Problem. Nur er selber kennt dieses in seinem ganzen Umfang. Er kann es oft nicht genau verstehen und zuordnen, da er in der Regel keine oder nur ungenügende medizinische Kenntnisse hat. Aus Informationen, die er sich hier und dort einholt, verbunden mit manchmal metaphorischen Vorstellungen, entwickelt er seine eigene, oft katastrophisierende Wirklichkeit. So, oft verunsichert oder mit Angst, sucht er den Arzt auf. Der Arzt ist Experte für das medizinische Verständnis des Symptoms. Er kreiert sozusagen eine medizinisch geprägte Wirklichkeit. Diese kann weit von jener des Patienten abweichen. Im Gespräch schaffen Arzt und Patient eine gemeinsame, für beide verständliche und anerkennbare Wirklichkeit.
Hat sich die Stellung der Ärzte in der Gesellschaft verändert?
Ja, aber in einem guten Sinn. Der Arzt ist nicht mehr der Allwissende, muss es nicht mehr sein. Sein medizinisches Wissen ist entmystifiziert, ist überall im Internet verfügbar. Das Ansehen des einzelnen Arztes ist bei seinen Patienten aber immer noch sehr gross, insbesondere dann, wenn er in eine echte therapeutische Beziehung zum Patienten treten kann, dem Patienten aktiv und empathisch zuhört, ihn versteht und anerkennt, ihn zuverlässig begleitet.
Das verfügbare Wissen hat eine Kehrseite. Es verunsichert den Suchenden in der Regel mehr, als dass es hilfreich ist. Sein eigenes Symptom richtig zuzuordnen, ist schwierig. Selbst für Ärzte, wenn sie sich selber verarzten. Wichtig ist heute, dass der Arzt den Patienten danach fragt, ob er sich schon über sein Symptom erkundigt habe, wo, und zu welchem Resultat er gekommen sei.
Lässt sich das Idealbild des Hausarztes in die heutige Zeit retten?
Die moderne Medizin ist eine sehr technische, auf Krankheiten ausgerichtete. Mit ihrem dafür nötigen hohen Spezialisierungsgrad ist sie gleichzeitig fragmentiert und auf einzelne Organe oder Körperfunktionen fokussiert. In eindeutig definierbaren Krankheitssituationen leistet sie hervorragende Arbeit. Leider sind diese klaren Situationen bei kaum einem Menschen gegeben. Hier ist der Hausarzt gefragt.
Wenn alle Spezialisten den Patienten mit ihrem je eigenen Fokus behandeln, geht der Mensch, der dies alles auf sich vereinigt, gerne verloren. Hier kommt der Hausarzt ins Spiel, der koordiniert, den Patienten mit seinem Lebenskontext berät, mit ihm überlegt, was für ihn angemessen ist und Sinn macht, und ihn auf seinem Weg begleitet. 90 Prozent der Beschwerden kann der Hausarzt im hausärztlichen Setting behandeln.
Er begleitet den Patienten mit verschiedenen Krankheiten über lange Zeit, oft bis zum Tod. Er ist Vertrauensperson des Patienten. Hausarztmedizin ist ein komplexer Beruf. Vielleicht ist es deshalb so schwierig für junge Menschen, sich vorzustellen, ihn zu ergreifen. Die Vereinigung der jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz ist stark im Aufschwung. Ich glaube, dass sie es schaffen wird, viele junge ÄrztInnen auf den Weg der Hausarztmedizin zu führen.
Weitere Infos: www.jhas.ch