Tabea Eine Grundsatzfrage vorab: Wann wird eine Meinungsverschiedenheit zu einer Spaltung, einer scheinbar unüberbrückbaren Kluft zwischen Menschen? Unterschiedliche Meinungen und Ansichten – nichts Menschlicheres als das und in vielen Fällen Ausgangspunkt für tolle Ideen und Projekte. Aber wann endet die bereichernde Meinungsvielfalt und beginnen sich Gräben aufzutun, die sich zwischen Gruppen bilden?
Werner Wenn bei uns im UND Junge und Ältere ein Thema diskutieren, gibt es Meinungsverschiedenheiten; sie spalten uns aber nicht. Denn wir wollen dem Gesprächspartner nicht unsere Meinung aufdrängen. Wir wollen wissen, wie er oder sie denkt und hören deshalb zu. Spaltung entsteht, wenn dieses Interesse fehlt und es ums Rechthaben geht.
Tabea PolitikerInnen scheinen sich demnach auf einem schmalen Grad – zwischen Parteitreue und Konsensfindung – zu bewegen. So entwickelten sich Parteien aus Spaltungen, sogenannten Konfliktlinien: Arbeit und Kapital, Kirche und Staat oder Stadt und Land haben zur Gründung und Abspaltung neuer Parteien geführt. Sind Parteien nun Treiber von konstruktiven Auseinandersetzungen oder doch von gesellschaftlicher Spaltung?
Werner Zurzeit scheinen mir in unserem Parteiensystem die Konfliktlinien eher Richtung Spaltung zu gehen. Eine Wahrheit ist immer ein Ganzes, das aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden kann. Wenn die Parteien das Ganze sehen und dabei eine besondere Perspektive betonen, finde ich das gut. Wenn sie sich aber auf diese Perspektive beschränken und die andern bekämpfen, wird aus einer bunten Parteienlandschaft eine zerklüftete, gespaltene.
«Wenn ich über die Gründe für Spaltungen nachdenke,
Tabea Keller
beschäftigt mich vor allem die Individualisierung
der Gesellschaft.»
Bruchstellen
Tabea Wenn ich über die Gründe für Spaltungen nachdenke, beschäftigt mich vor allem die Individualisierung der Gesellschaft. Dazu gehört für mich auch das Streben von uns Menschen, für alles einen Namen zu haben – sich selbst ein Stück weit als Marke zu positionieren. Eine Angst, sich rechtfertigen zu müssen oder nicht mehr dazu zu gehören, wenn man sich nicht konsequent an die «gewählten Werte» hält. Diese Bubbles (Blasen), die durch die Individualisierung entstehen, sind aus meiner Sicht ein grosser Treiber von Spaltungen.
Werner Da hast du wohl recht. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf das eigene Ich, die sich im Selfie-Kult so schön zeigt, trennt Menschen voneinander. Doch es muss wohl mehr sein. Es gibt so viele Spaltungen: Klimafrage, Stadt-Land-Graben, Generationenkonflikt, Armutsschere, Migration – da brodelt doch etwas im Untergrund. Ist es die Angst vor einer ungewissen Zukunft, die aggressive Gefühle weckt? Ist es der Pluralismus der Meinungen, der jede Gewissheit untergräbt? Oder fehlt es an einer gemeinsamen Basis, an gemeinsamen Werten, wie die Religion sie früher vermittelte?
Tabea Ja, wenn ich dir diese Fragen nur beantworten könnte … Die Globalisierung und der technologische Fortschritt kommen mir in diesem Zusammenhang in den Sinn. Die Möglichkeit, sich über Social Media mit Gleichgesinnten zu treffen, News aus der ganzen Welt in Echtzeit zu erhalten, durch Algorithmen auf Inhalte selektioniert zu sein, auf Meinungen, die man sowieso schon teilt. Meiner Ansicht nach sind das Entwicklungen, die ganz schön viel Potenzial zur Polarisierung haben. Eine Gesellschaft voller Vielfalt und Möglichkeiten, in ihren eigenen Bubbles gefangen – so kommt es mir manchmal vor.
Werner Mir scheint, in unserer Psyche sei etwas weitgehend verloren gegangen: Gewissheit, Geborgenheit, Heiterkeit, Gelassenheit. Statt dessen scheinen Orientierungslosigkeit, Angst und damit zusammenhängend Aggression vorzuwiegen. Haben wir, verloren in einem unendlichen, kalten All und einer unübersehbaren Vielfalt an Möglichkeiten, ein Unruhepotenzial in uns, das uns dann spaltet? Früher war doch der Himmel ein bergendes Firmament und die umgebende Gesellschaft eine überschaubare Gruppe.
Tabea Ich finde auch, dass die Menschen nicht mehr so verwurzelt sind und sich dadurch eine gewisse Unruhe oder Unsicherheit breit macht. Menschen, die sich nicht mehr in andere Meinungen einfühlen oder hineinversetzen wollen – sich die Zeit nicht nehmen, um andere Gedankenprozesse und Positionen nachvollziehen zu können. Ist es die fehlende Neugier oder wieder diese Angst, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen? Diese Scheu vor Konfrontation mit anderen Meinungen trägt meiner Meinung nach ironischerweise gerade dazu bei, dass sich Konflikte verhärten.
«Wir haben auch als Einzelne viele Möglichkeiten:
Werner Kaiser
Lernen zuzuhören, statt zu argumentieren.»
Brücken bauen
Werner Zur Behebung von Spaltungen müsste man vor allem die Ursachen bekämpfen. Da wäre die Politik gefordert. Ich denke da an ein Wirtschaftssystem, das nicht provoziert durch eine gewaltige Armutsschere, das allen ein gesichertes Auskommen beschert. Oder an eine Politik, die weniger auf Konfrontation als auf konstruktives Zusammenarbeiten zielt. Und dann wären Medien gefragt, die immer auch die Argumente der Gegenseite zur Kenntnis nehmen.
Tabea Apropos Medien: Konflikte und Spaltungen bieten heute auch viel Unterhaltungsstoff, ziehen somit viele LeserInnen und ZuschauerInnen an und generieren für die Medien viele Einnahmen. Ein richtiger Teufelskreis. Bei sich selbst anzufangen scheint mir da ein realistischeres Vorhaben zu sein.
Werner Ja, und da haben wir auch als Einzelne viele Möglichkeiten: Lernen zuzuhören, statt zu argumentieren. Die Hintergründe des Gegenübers verstehen lernen. Konflikte offen und aggressionsfrei ansprechen. Auch Andersdenkende zum Gespräch einladen. Gespräche führen, bei denen jedes «aber» einen Franken kostet. Bei Podiumsgesprächen einen Preis für das beste Zuhören verleihen. Kurz: alles tun, was Dialog und Verständnis fördert. Was hältst du von dieser Rezeptsammlung?
Tabea Da kann ich dir nur zustimmen. Bubbles verlassen, offen auf andere Meinungen zugehen und die Vielfalt unserer Gesellschaft neu schätzen lernen. Für mich persönlich sind dabei Grosszügigkeit und Neugier Faktoren, die wesentlich dazu beitragen, dass sich Spaltungen schliessen und zu bereichernder Meinungsvielfalt werden.