Eva X. sass geschockt in einer Gefängniszelle des Genfer Flughafens und telefonierte mit ihrem Freund Richard in London, der sie in Heathrow hätte abholen sollen.
«Richard, mir ist etwas Schreckliches passiert. Ich kann vorläufig nicht zu dir kommen.» «Bist du verunfallt?» – «Schlimmer, ich wurde verhaftet.» – «Was hast du denn angestellt?» – «Nichts. Irgendeine Bande hat mich in ein illegales Geschäft verwickelt.» – «Heavy! Darf ich dein Detektiv sein?» – «Ich benötige dringend Hilfe. Aber unser Gespräch wird sicher abgehört.» – «Okay. Wie genau ist es denn passiert?» – «Kurz bevor der Zug von Genf Richtung Flughafen wegfuhr, klopfte ein gut gekleideter Mann an das Fenster meines Abteils und fuchtelte wie wild mit seinen Armen. Ich dachte, das sei sicher eine Verwechslung und schüttelte den Kopf. Als er deutete, ich solle herauskommen, drehte ich ihm eine lange Nase.»
«Cool hast du das gemacht, liebe Eva.» – «Danke, aber es nützte nichts. Ich hörte plötzlich, wie der Verschluss meiner Handtasche zuschnappte. Ich drehte mich blitzschnell um. Die Tasche stand noch da, aber jemand rannte weg. Ich schaute sofort, ob etwas fehlte. Es war alles noch drin.» – «Glück gehabt.» – «Leider nicht. Bei der Passkontrolle am Flughafen behaupteten sie, mein Pass sei gefälscht, und führten mich ab. Auf dem Posten durchwühlten sie all mein Gepäck und fanden im Koffer Designerdrogen. Da flog ich gleich in die Gefängniszelle, anstatt zu dir!»
«Man hat dir also im Zug den Pass ausgetauscht und dir Drogen in den Koffer geschmuggelt?» – «Ja, und jetzt habe ich nur noch das GA, auf dem mein richtiger Name steht. Aber darauf gaben die Tschugger nichts. Sie lassen mich eingelocht und sagen, mein Fall werde untersucht. Jetzt bin ich also ein krimineller Fall, der in eine Falle ging. Was soll ich nur tun, mein geliebter Sherlock Holmes?» – «Ich hole dich da raus. Vielleicht steckt jemand dahinter, den ich kenne.» – «Verkehrst du in solchen Kreisen, Richard?» – «Bscht!»
Untergetaucht
Richard rief die Mutter von Eva an: «Du musst sofort nach Genf an den Flughafen. Eva steckt in Schwierigkeiten!» Mutter Gisela setzte sich panisch in den Zug von Bern nach Genf. Entschlossen streckte sie den Beamten in Genf Evas Identitätskarte entgegen und erklärte in holprigem Französisch: «Das ist meine Tochter. Lassen Sie sie sofort gehen!» Eva war erleichtert; sie wurde eine halbe Stunde später, nach kurzer Diskussion, aus der Haft entlassen. «So, Kind, aber jetzt erzählst du mir mal, was hier los ist! Ich wusste gar nicht, dass du verreist.» – «Sorry Mami, ich muss sofort nach England weiterreisen! Ich erkläre dir später, warum. Mach dir keine Sorgen um mich.»
Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, nahm ihre Handtasche und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Ihre Gedanken rasten. «Irgendjemand will verhindern, dass ich nach England gelange. Ob es wohl… mit meinem Vorhaben zusammenhängt? Wer weiss? Ist vielleicht sogar Richard in die Sache verwickelt? Egal – denen werde ich es zeigen! Ich habe ja jetzt eh kein Flugticket mehr. Die rechnen aber damit, dass ich den nächsten Flug zu erwischen versuche. Also mache ich es anders: Ich reise auf dem Landweg!» Glücklicherweise konnte sie für den Folgetag kurzfristig einen Sitzplatz im TGV Richtung Paris reservieren. In Paris nahm sie den Eurostar, der unterirdisch den Ärmelkanal durchquerte und sie blitzschnell nach London brachte.
Evas erster Revolver
In der vollen U-Bahn, die Eva zu ihrem Lover führen sollte, grabschte ein Knacker eine junge Frau von hinten an. Eva drückte ihm einen grossen Revolver zwischen die Rippen und raunte mit italienischem Akzent: «Finger weg, sonst blase ich dir eine Tonne Blei zwischen die Rippen!» Der Kerl wurde kreidebleich und verdrückte sich.
Die junge Frau drehte sich scheu um und staunte, dass ein junger Mann in dunkelvioletter Schale und breitrandigem Hut gleich seine Knarre in die Schulterhalfter zurückschob. «Thank you», flüsterte sie mit Schweizer Akzent. «Emanzipierte Frauen müssen einander beistehen», grummelte Eva und zwinkerte mit dem linken Auge. Zum Glück hatte sie sich in Paris noch schnell in Männerschale gestürzt und auf dem Antiquitätenmarkt den alten Revolver ergattert.
Richard war verblüfft, als dieser ‹Herr› vor seiner Tür stand. Eva grinste und küsste ihn stürmisch. «Gute Tarnung, Baby», flüsterte
Richard atemlos. Eva drehte ihren Revolver um den Zeigefinger und flüsterte bedrohlich: «Sag nicht noch einmal Baby zu mir, sonst knallt’s. Ich bin eine erwachsene Frau! Und überhaupt: Mit wem steckst du unter einer Decke?» – «Wie meinst du das?» – «Du sagtest am Telefon, dass du jemanden kennst, der …» – «Ah, ich befürchtete, dein Exfreund könnte dahinterstecken.»
«Eifersucht? Vergiss es! Dann also zum geschäftlichen Teil. Du hast ja eben dein Anwaltspatent gemacht, und ich werde dein erster Fall.» – «Ich arbeite aber nur legal…» – «Heikles übernehme ich. Also: Mein unter dubiosen Umständen verstorbener Vater hatte zwei Frauen – eine in London und meine Mutter in Zürich. Er war Besitzer einer Privatbank hier in London sowie eines grossen Gestüts auf dem Lande. Er lebte in einer schönen Villa und hatte weitere Häuser. Ich habe offenbar eine Halbschwester, die ich noch nie gesehen habe, und weitere Verwandte. Die Frage ist, wer was erben wird.» – «Spannend!»
Jetzt wird’s heiss
«So, aber nun muss ich mal durchatmen nach dieser Aufregung», meinte Eva. Die beiden gönnten sich eine Flasche Rotwein und schauten eine Folge der englischen Krimiserie «Inspector Barnaby». «Ist das Zufall, Eva? In dieser Folge geht es doch tatsächlich gerade um einen Erbstreit – mit tödlichen Folgen.» Trotz der Freude, bei Richard zu sein, und trotz der halben Flasche Rotwein grübelte Eva im Bett noch lange an ihrer Situation herum. Richards lange Atemzüge neben ihr beruhigten sie schliesslich, und sie fiel in einen traumlosen Schlaf.
«Aufwachen, Miststück! Los!» Eva schreckte hoch. Sie sass auf dem Bett, Richard war verschwunden. Vor ihr stand eine dicke junge Frau mit kurzem rotem Kraushaar und einem wilden Blick. Sie richtete eine Waffe auf Evas Brust. «Scheisse, was ist hier los? Wer sind Sie? Wo ist
Richard?!»
«Still, Miststück! Deinen dumpfbackigen Stecher haben wir in den Gemeinschaftskeller gesperrt. Und du ziehst dich jetzt um und kommst schön brav mit uns! Und an deiner Stelle würde ich mich nicht zu wehren versuchen. Sonst bekommt dein Stecher noch etwas anderes zu spüren als nur den Kellerboden.» Sie lachte böse und laut auf. Evas Herz setzte für einen Schlag aus, doch sie fing sich sofort wieder.
«Was wollen Sie von mir?», fragte sie mit gespielt naiver Stimme und versuchte, so zu tun, als erkenne sie ihre Halbschwester Selma O’Malley nicht. Natürlich hatte sie bereits Fotos von ihr gesehen und alles über sie in Erfahrung gebracht. Das hatte sie Richard allerdings nicht verraten können. Richard! Hoffentlich hatten sie ihn nicht verletzt. «Ohhh, erkennst du mich nicht, hmm? Dabei haben wir doch dieselben Haare, Schwesterchen!» Die Stimme von Selma klang höhnisch.
«Hey Schel, kommscht du mit dem Opfer? Isch habe nischt den gantschen Tag Tscheit!», dröhnte es vom Flur. Eine tiefe Männerstimme, die zu einem Bären von Mann zu gehören schien. Von dem massiven, dümmlich klingenden Sprachfehler durfte man sich nicht täuschen lassen, das wusste Eva. «Ich spiele einfach ganz brav mit und nutze dann den richtigen Moment», dachte sie.
Scotland Yard greift ein
Der dicke Kerl stand mit einer Schrotflinte im Anschlag im Hausgang. «Na, komm schon, du Früchtchen eines Seitensprungs, wir bringen dich auf eine unbekannte Insel, bis die Erbsache geregelt ist.» – «Du sollt nichts plaudern, Onkelchen. Überlass das Reden bitte mir», murmelte Selma. Als sie auf die Strasse kamen, schaute Selma nach links und rechts und fragte hysterisch: «Wo hast du unseren Panzerwagen abgestellt, Schwachkopf?» – «Genau vor der Tür, Schätzchen.» – «Unter diesem Anhalteverbot?» – «Wer kümmert sich um blöde Tafeln?» – «Die Polizei, Mister O’Malley», antwortete überraschend Kommissar 008 und spielte mit seiner golden glänzenden Pistole.
Aus dem Nebenausgang kamen drei Polizisten mit Maschinenpistolen gerannt. «Legen Sie alle sofort ihre Waffen auf den Boden und stehen Sie an die Hauswand.» Selma und der Onkel landeten im Untersuchungsgefängnis, Eva und der befreite Richard auf dem Kommissariat. Kommissar 008 empfing sie freundlich und meinte augenzwinkernd: «Wir nehmen an, dass ihr alter Revolver nur der Notwehr diente, Frau Eva Winzer.» – «Ja, sicher, und der Abzug ist so verrostet, dass er klemmt. Aber woher wussten sie, dass wir in Gefahr waren?»
«Der Anwalt Ihres verstorbenen Vaters informierte uns vor einiger Zeit, dass gewisse Angehörige so geldgierig seien, dass sie wohl vor nichts zurückschrecken würden und man sie besser überwache, bevor etwas passiere. Wir haben darauf die Handys abgehört und alle beschattet.» – «Uff, da haben wir ja mal Glück gehabt. Vielen Dank den Lebensrettern!» Nachdem Eva ihre Erlebnisse zu Protokoll gegeben hatte, gingen sie und Richard zum Erbschaftsverwalter.
Dieser eröffnete ihnen, das Testament sehe, grob gesagt, vor, dass die Gattin des Verstorbenen die Villa und das Gestüt erbe, die Mutter von Eva das luxuriöse Ferienchalet in Gstaad und Eva die Bank sowie weitere Vermögenswerte. Selma und ihr Onkel gingen leer aus, weil sie den Verstorbenen mehrmals betrogen hätten. Ans Erbe von Eva sei die Bedingung geknüpft, dass sie die Bank nicht verkaufe. Der Jahresgewinn hingegen gehöre zur Hälfte ihr. Mit der anderen Hälfte solle sie eine Stiftung gründen, die ökologische Projekte unterstütze. Eva war glücklich und beschloss, zusammen mit Richard die grüne Stiftung zu führen und für die Leitung der Bank den bisherigen CEO einzusetzen. Erst jetzt konnte Eva um ihren vergifteten Vater trauern.
Happy End!
Eva und Richard spazierten der englischen Küste entlang. «Dieser Ausflug war eine tolle Idee, Eva! Ich glaube, ich habe mich von den Strapazen wieder erholt.» Eva antwortete nicht, sondern zog eine kleine Schachtel aus ihrem Rucksack. Richard erstarrte. Sie kniete theatralisch vor ihm auf den Boden. «Richard Greenfield, willst du mich heiraten, lieben und ehren und meinen Nachnamen annehmen, bis dass der Tod uns scheidet?» Richard erwachte aus seiner Starre, umarmte und küsste sie stürmisch. «Na klar!» Doch auf einmal hielt er inne und runzelte die Stirn. «Eine Bedingung habe ich allerdings.» – «Welche denn?», fragte Eva verwirrt. Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf Richards Gesicht aus. «Ich will natürlich einen Ehevertrag!»