
Liebe Frau Riem, woher kommen Sie?
Ich hätte noch eine ältere Schwester gehabt, Verena, aber diese starb leider einen Tag nach ihrer Geburt. Dennoch wuchs ich nicht ganz als Einzelkind auf, denn Ursula, das Nachbarsmädchen, war wie eine Schwester für mich. Wir fuhren gemeinsam Rollschuh zwischen den Häusern, bis die Nachbarinnen sich beschwerten. Mein Vater hatte ein Gipser- und Malergeschäft in Thun, die Mutter arbeitete als Coiffeuse. Sie nutzte ein Zimmer unserer Wohnung als Coiffeursalon, während ich daneben im Laufgitter war. Nach der Schule machte ich die Ausbildung zur Arztgehilfin in Spiez, danach ein Praktikum im Spital Erlenbach und arbeitete schliesslich bei einem Chirurgen in Thun. Als ich 35 Jahre alt war, starb mein Vater innerhalb von sechs Wochen an Krebs. Ab 1975 therapierte ich dann für die Lungenliga Patienten und Patientinnen, in einer eigenen Praxis. Nebenbei gab ich noch Eislaufkurse, an denen bis zu 200 Kinder pro Saison teilnahmen. Später machte ich die Ausbildung für medizinische Massage, Lymphdrainage und Fussreflexzonenmassage. Ich war Krankenkassen-anerkannt, musste viele Weiterbildungen absolvieren. So war ich oft unterwegs, auch im Ausland. Ich habe nie geheiratet, hatte jedoch viel mit Kindern zu tun – jeden Winter.
Wo stehen Sie im Moment?
Das Wichtigste, was mich das Leben gelehrt hat, sind Zufriedenheit und Bescheidenheit. Ich mag den Kontakt mit den Leuten, das wurde mir einfach in die Wiege gelegt. Ich bin einfühlsam und schon immer war es mein Motto, anderen Menschen zu helfen. Bis zu meiner Rückenerkrankung und einer Operation ging ich sehr gerne schwimmen. Nach dem Eingriff baute ich meine Rückenmuskeln mit eisernem Willen und Training wieder auf. Täglich steige ich alle vier Stockwerke von meiner Wohnung runter und wieder rauf; ich muss für den Fall gerüstet sein, dass mal der Lift ausfällt. Ich bin eine Kämpfernatur, streng mit mir und habe viel Ausdauer. Es ist mir sehr wichtig, unabhängig zu sein, deshalb zog ich rechtzeitig in eine kleine, rollstuhlgängige Wohnung um. Alle wichtigen Geschäfte sowie Physio, Hausarzt, Zahnarzt erreiche ich von hier aus mit meinem Rollator selber. Einsam bin ich nicht; ich habe Kontakt zu meinen SchülerInnen vom Eislaufen und auch zu deren Eltern sowie zu ehemaligen KundInnen von der Lymphdrainage. Das Höchste, was ich erlebt habe, war die Einladung zur jüdischen Hochzeit einer ehemaligen Schülerin. Mit fünf Freundinnen treffe ich mich einmal im Monat. Ich habe sehr oft Besuch und eigentlich jeden Tag etwas los.
Wohin gehen Sie?
Mein Wunsch ist, möglichst lange selbständig zu bleiben, jedoch nicht, uralt zu werden. Aber man weiss ja nie, wie es kommt. Ich schaue darum gar nicht allzu weit in die Zukunft, sondern lebe im Moment. Angst zu haben ist sinnlos. Falls etwas wäre, habe ich drei Leute, die ich anrufen kann; ihre Nummern sind bei mir in der Kurzwahl gespeichert. Sie haben einen Schlüssel für meine Wohnung, für den Notfall. Wenn es mir gut geht, dann gehe ich spazieren. Dass ich keine Nachkommen habe, macht mir keinen Kummer. Ich weiss, wem ich mein Vermögen hinterlassen werde, das habe ich alles geregelt. Wenn ich jedoch ins Pflegeheim muss, bleibt möglicherweise gar kein Geld übrig, denn die Pflegeheime kosten sehr viel. Aufgrund meiner vielen Weiterbildungen musste ich den Umgang mit dem Computer beherrschen. Ich habe einen Emailaccount und werde mir demnächst wohl auch ein Smartphone kaufen. Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich dieses begreife.
Danke für den interessanten Artikel über Frau Riem. Ich habe wie sie eine Massage-Ausbildung (in Thun) gemacht, war Krankenkassen-anerkannt und musste viele Weiterbildungen absolvieren. Habe also ähnliches erlebt.