Die Intensivmedizin geriet durch die Pandemie unerwartet in den Fokus der Öffentlichkeit. Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei die Triage. Sprich die Priorisierung gewisser PatientInnen, wenn nicht allen geholfen werden kann. Auch unabhängig von der aktuellen Lage, im regulären Spitalalltag, spielen die Triage oder lebenswichtige Entscheidungen im Allgemeinen eine grosse Rolle. Ein Interview mit Prof. Dr. med. Stephan Jakob (62), Klinikdirektor und Chefarzt der Intensivmedizin Inselspital Bern.
Das Inselspital befindet sich nun schon bald seit einem Jahr in einem Ausnahmezustand. Wie geht es Ihnen?
Prof. Dr. med. Stephan Jakob: Es ist herausfordernd. Doch wir sind ein grosses Team und haben Unterstützung von anderen Kliniken im Haus, wie auch von der Spitalleitung erhalten. Wir konnten zusätzliches Personal rekrutieren und bekamen zum Beispiel Parkplätze von Firmen in der Umgebung für unsere MitarbeiterInnen. Ferner wechselten wir mit der Pandemie in einen Zwei-Schichten-Modus und die Verantwortung wurde geteilt. Wir haben uns auf einen langen Weg eingerichtet.
Gibt es an einem Unfallort eine hauptverantwortliche Person, die sich einen Überblick über die Lage verschafft und vor Ort die Entscheidungen zur Dringlichkeit trifft?
Hierzu müssten Sie NotfallmedizinerInnen befragen. Aber ja, bei grösseren Unfällen wird jemand bestimmt, der vor Ort die Triage macht. Je nach Situation werden auch Laien mit einbezogen, um beispielsweise beim Stoppen von Blutungen zu helfen. Triagieren ist eine Kunst, welche die MedizinerInnen teilweise bereits in der Ausbildung lernen. EinE TriagistIn oder bei grösseren Unfällen das Triagisten-Team entscheidet zudem, in welches Spital die PatientInnen transportiert werden.
«Für uns wäre es hilfreich, wenn die Menschen in der Familie mehr miteinander sprechen würden.»
Prof. Dr. med Stephan Jakob
Wie oft muss in normalen Zeiten eine Triage vorgenommen werden?
Triage ist im weitesten Sinn etwas, was ÄrztInnen täglich durchführen müssen, um die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Behandlungen richtig einzuschätzen. Er muss abschätzen, welche Behandlung oder Medikamente den PatientInnen wirklich helfen. Im Zuständigkeitsbereich von Intensivstationen wird, auch ohne Platznot, mit den Zuweisenden diskutiert, ob eine Aufnahme in die Intensivstation sinnvoll ist. Trotz Covid-19-Pandemie sind wir als Inselspital Bern nie in die Lage geraten, im eigentlichen Sinn triagieren zu müssen. Im Tessin oder in der Westschweiz, aber auch in angrenzenden Ländern wie Italien und Frankreich, war dies sicherlich anders. In der zweiten Welle stand uns zudem die nationale Koordinationsstelle zur Verfügung, die verfügbare Plätze gesucht hat.
Kann man also sagen, dass die Schweiz auch im normalen Alltag gar nicht schnell in ein Dilemma gerät, weil die Schweiz für eine Pandemie schon gut aufgestellt ist?
Wir konnten ad hoc Intensivmedizinplätze aufstellen. Durch die von der Spitalleitung zur Verfügung gestellten Mittel konnten wir in einem alten Aufwachraum innerhalb kurzer Zeit 26 Plätze installieren. Gebraucht haben wir diese vorläufig nicht. Wir hatten aber andere Eskalationsstufen, wo wir bis zu 16 zusätzliche Beatmungsbetten benötigten. Genau das ist unsere Strategie. Wir möchten nicht limitieren, sondern soweit ausbauen, dass wir alle PatientInnen, welche eine Intensivbehandlung benötigen, aufnehmen können. Es wäre auch unsere Strategie bei einem noch grösseren PatientInnenaufkommen, egal welcher Art, dass wir die Betreuungsintensität so weit ausdünnen, wie es nur geht, um alle aufnehmen zu können. Zwar würde die Behandlungsqualität abnehmen, aber man müsste niemanden abweisen. Auch dies ist ein Dilemma. Man muss immer abwägen, welcher Entscheid unter dem Strich für die PatientInnen der beste ist.
Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) beschliesst die ethischen Grundregeln in der Medizin. Wie werden diese Richtlinien bestimmt?
Ich bin nicht Mitglied der Akademie, aber normalerweise gibt es eine Kommission, wenn Richtlinien formuliert werden sollen, und dieses Gremium versucht man möglichst breit aufzustellen. EthikerInnen, ÄrztInnen, VertreterInnen von Patientenorganisationen, möglichst alle betroffene Stakeholder sind dabei. Häufig werden für bestimmte, spezifische Fragen noch ExpertInnen eingeladen. Die SAMW schickt anschliessend die Richtlinien in die Vernehmlassung. Alle meine KollegInnen erhalten diese Richtlinien und können Rückmeldungen geben. Am Schluss kommt es zum Konsens respektive einer Empfehlung. Es ist hilfreich, sich nicht auf das eigene Gefühl verlassen zu müssen, sondern die Grundregeln beiziehen zu können, im Wissen, dass diese breit abgestützt sind.
«Triage ist etwas, das jeder Arzt
Prof. Dr. med Stephan Jakob
täglich durchführen muss.»
Welche Situationen von ethischen Dilemmata kommen am häufigsten vor?
In der Regel sind unsere Dilemmata mehr «Was ist eine nachhaltige Medizin?» oder «Wie gehen wir mit der Situation um, dass man mit medizinischen Massnahmen zwar PatientInnen noch längere Zeit am Leben halten kann, die Prognose für ein qualitativ akzeptables Leben aber aus medizinischer Sicht äusserst schlecht ist?» Leider ist der Patientenwillen häufig nicht dokumentiert.
Wie sehen die ethischen Entscheidungen, respektive der Ablauf bei PatientInnen aus, bei denen es um Leben und Tod geht? Werden grundsätzlich immer mehrere MedizinerInnen einbezogen?
Unsere ethischen Herausforderungen sind die Diskussionen mit den Angehörigen – und so den Wunsch der PatientInnen zu eruieren. Es ist nicht so, dass ein Mensch bei uns drei Wochen einfach schläft, aufwacht und alles ist gut. Je länger man auf der Intensivstation liegt, desto mehr Komplikationen entstehen: etwa durch Infektionen oder Schwund der Muskulatur und Nervenuntergang, sodass schwere Lähmungserscheinungen die Folge sein können. Zudem gibt es auf Intensivstationen keinen Tag-/Nachtrhythmus. Wir versuchen, die Schmerzen zu behandeln, aber bei bewusstlosen PatientInnen wissen wir nicht genau, welches Schmerzempfinden noch da ist und ob sie effektiv leiden oder nicht. Diesen Sachverhalt den Angehörigen klar zu machen ist nicht immer einfach. Wir versuchen ihnen zu erklären, was Intensivmedizin genau bedeutet, und mit ihnen zu eruieren, welches der Wunsch des Patienten oder der Patientin in dieser Situation wohl wäre.
Für solche Fälle gibt es ja eigentlich Patientenverfügungen oder Organspendeausweise. Wie oft helfen diese bei Entscheidungen?
Die Patientenverfügung fehlt meistens. Und wenn die Verfügung vorhanden ist, sind häufig nur grobe, wenig detaillierte Verfügungen enthalten. Für uns wäre es hilfreich, wenn die Menschen in ihren Familien mehr über diese Themen sprechen würden. Resultate aus Diskussionen mit den Angehörigen sind für uns in der Intensivmedizin genau so verbindlich, wie eine Patientenverfügung. Häufig kann man in einem Gespräch besser herausfinden, welches der Wille des Patienten oder der Patientin ist, als wenn man einfach ein Schreiben hat, das für die vorhandene Situation doch nicht ganz zutrifft. Auch der Organspendeausweis fehlt in den meisten Fällen.
Organspenden können dafür weitere Dilemmata hervorrufen: Wer erhält das Organ?
Wir entscheiden nicht. Heute wird in der Schweiz national über Swisstransplant koordiniert. Swisstransplant führt das Nationale Organspenderegister. Wir haben keinen Einfluss auf den Entscheid und auch keine Ahnung, wer auf der Warteliste steht. Selbst wenn zum Beispiel ein Spenderherz bei uns zur Verfügung steht und auf der gleichen Intensivstation jemand ein Herz benötigt, haben wir keinen Einfluss auf den Entscheid, wer das Organ erhält. Es kann gut sein, dass bei einer allfälligen Organspende das Herz an einen ganz anderen Ort geht. Der nationalen Koordinationsstelle wird gemeldet, welche Organe voraussichtlich zur Verfügung stehen werden, und sie entscheiden dann nach ihren Kriterien. Wir zeigen den Angehörigen vor einer möglichen Organspende nur die verschiedenen Szenarien auf. Was die Angehörigen daraufhin entscheiden, wird von uns unterstützt.
Gibt es Entscheidungen, welche Sie bis heute begleiten?
Ich möchte es eher Schicksale nennen, an welche ich mich erinnere. Entscheidungen muss ich nicht alleine treffen. Diese werden immer in Zusammenarbeit mit KollegInnen, mit dem Pflegepersonal und den Angehörigen vollzogen. Gemeinsam wird abgewogen und am Schluss ist es ein gemeinschaftlicher Entscheid, der gut überlegt ist.
Oder Entscheide, die Sie heute lieber anders fällen würden?
Man baut sicherlich einen Schutzschild auf. Bei uns auf der Intensivstation stirbt im Schnitt an jedem Tag eine Person. Alle Schicksale kann und darf man nicht zu nahe an sich heranlassen, sonst wäre man bald ausgebrannt. Für uns sind es vielleicht eher Fehler, welche passieren können, die einen lange begleiten. Wie etwa bei der Gabe von Medikamenten oder bei invasiven Tätigkeiten, also zum Beispiel Kathetereinlagen. Fehler sind für uns schlimm, wenn einE PatientIn dadurch Schaden nimmt. Auch wenn wir alle möglichen Vorsichtsmassnahmen berücksichtigen, wie Doppelkontrollen und Timeouts (richtigeR PatientIn, richtige Seite?), ist es möglich, dass trotzdem irgendeinmal etwas passiert.
Spielen Kosten eine Rolle bei Entscheidungen?
Grundsätzlich steht der Mensch im Vordergrund und die Kosten sind erst mal zweitrangig. Würden wir alle PatientInnen mit sehr schlechter Prognose an Maschinen anschliessen oder daran belassen, bis sie trotz allen Massnahmen oder wegen Komplikationen (wie erworbene Infektionen) sterben, würden die Kosten eine Rolle spielen bzw. wir wären nicht mehr in der Lage, neue PatientInnen aufzunehmen. Zudem achten wir darauf, wie nachhaltig die Behandlung ist. Kommen etwa PatientInnen mit immer wieder den gleichen, selbstverursachten schweren Schäden zu uns, müssen wir uns die Frage stellen, wie oft die Behandlung noch durchgeführt werden soll. Für solch schwierige Situationen haben wir die Möglichkeit von ethischen Fallbesprechungen.
Wenn man in die Zukunft schaut – die künstliche Intelligenz könnte Ihnen die Entscheidung abnehmen: Was halten Sie davon?
Ich würde ihre Erkenntnisse mitberücksichtigen. Wir forschen auch auf diesem Gebiet. Wir wollen im Voraus wissen, ob die Person in einen Kreislaufschock fallen oder zu wenig Sauerstoff haben wird. Dazu werden von Zehntausenden PatientInnen Daten analysiert und daraus Algorithmen abgeleitet. Daraus sollen zukünftig Warnungen resultieren, die es uns vier, sechs oder im besten Fall schon 24 Stunden im Voraus ermöglichen, geeignete Massnahmen zu ergreifen. Am Schluss muss aber doch der Mensch entscheiden, welche Massnahmen mit all den verfügbaren Entscheidungshilfen nun ergriffen werden sollen. Hundertprozentig auf den Computer abstützen würde ich mich nicht, ihn aber zur Unterstützung gebrauchen.
Wie stark haben die Erfahrungen von Covid-19 die Notfall- und Intensivmedizin in Ihrem Spital verändert? Wie erlebten Sie Ihr Team in diesen ausserordentlichen Situationen?
Ich kann nur für die Intensivmedizin sprechen. Die ungewohnte Situation hat uns «zusammengeschweisst» und unsere Leistungsfähigkeit aufgezeigt. Es war sehr schön zu sehen, wie alle mitgeholfen haben. Wir haben Unterstützung von der Anästhesie und anderen Bereichen des Inselspitals erhalten sowie von sehr vielen weiteren Personen: ehemaligen MitarbeiterInnen, StudentenInnen, Freiwilligen. Es gab auch Diskussionen mit Leuten ausserhalb des Spitals: Einerseits hatten sie Verständnis, andererseits gab es Personen, die sagten, «Wegen euch im Spital haben wir den Lockdown» oder «Wir verlieren den Job». Sie fragten sich, ob sich der ganze Aufwand lohne. Sowohl für unser Spital als auch für mich ist es eine gute Erfahrung hinsichtlich der Gewissheit, mit solchen Situationen umgehen zu können und fantastisches Personal zu haben, das durch dick und dünn geht.