Die Lektüre von Caroline Criado-Perez‘ Buch «Unsichtbare Frauen» fasziniert und frustriert zugleich. Auf eindrückliche Weise vermag die Autorin darzulegen, «wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert». Frustriert nehmen wir Leserinnen zur Kenntnis, wie die fehlende Erhebung wissenschaftlicher Daten von geschlechtsspezifischen Unterschieden sich verzerrend auf das Leben von Frauen auswirkt. Zahlreiche Beispiele aus Politik, medizinischer Forschung, Technologie, Arbeitswelt, Stadtplanung und dem Medienbereich zeigen diese Lücken in der Datenerhebung. Kraftvoll und provokant plädiert Criado-Perez für einen Wandel dieses Systems und lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen.
Die weibliche Leerstelle
Die Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Die Chronisten der Vergangenheit räumten den Frauen in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht einen Platz ein. Männliche Lebensläufe galten als repräsentativ für alle Menschen. Das Leben der anderen, weiblichen, Menschheits-Hälfte versank in Schweigen. Heute spricht man von einer geschlechterbezogenen Lücke in den wissenschaftlichen Daten, dem Gender Data Gap. Die Benennung dieser Lücke ist nur der Anfang. Die Autorin klärt auf, wie diese Leerstellen und das viel zu lange Schweigen den Frauen alltägliche, durch nichts zu begründende Probleme aufbürden.
Drei Themen tauchen immer wieder auf: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen. Diese Themen ziehen sich durch alle Lebensbereiche, vom öffentlichen Nahverkehr über den Arbeitsplatz, von medizinischen Eingriffen bis hin zur Politik.
«Die Männer vergessen diese Themen, weil sie keine weiblichen Körper haben.»
Caroline Criado-Perez
«Die Männer», so Criado-Perez, «vergessen diese Themen, weil sie keine weiblichen Körper haben. Nur ein Bruchteil der unbezahlten Arbeit wird von Männern geleistet. Zwar sind sie ebenfalls von Gewalt betroffen, doch diese manifestiert sich anders als die Gewalt, von der Frauen betroffen sind. So werden Unterschiede ignoriert und wir fahren fort, als seien der männliche Körper und dessen Lebenserfahrung geschlechtsneutral. Dabei handelt es sich um eine Form der Diskriminierung von Frauen.»
Diese Fehleinschätzung basiert auf Daten, die «fast ausschliesslich» aus mit Jungen durchgeführten Studien stammen.
Fehleinschätzung: Neue Forschungen zeigen, dass die weibliche Sozialisation dazu beitragen kann, dass Mädchen gesundheitliche oder psychische Symptome besser verbergen, als das bei Jungen möglich ist. Beispielsweise gibt es mehr autistische Mädchen, als bislang angenommen. Diese Fehleinschätzung basiert auf Daten, die «fast ausschliesslich» aus mit Jungen durchgeführten Studien stammen. Es gibt Hinweise, dass manche an Anorexie leidenden Mädchen autistisch sind, jedoch nicht als solche erkannt werden, weil das Symptom nicht typisch männlich ist.
Wissensproduktion: Der Einbezug beziehungsweise die Einflussnahme von Frauen in Politik, Friedensgesprächen, Design und Stadtplanung – um nur einiges zu nennen – nützt uns allen. Es geht nicht einzig um Frauenrechte. «Wenn wir die Hälfte der Menschheit von der Wissensproduktion ausschliessen, entgehen uns potenziell bahnbrechende Erkenntnisse.» Beispiel: Daina Taimina. Die Professorin häkelte ein Set hyperbolische (übertreibende) Formen. Damit gelang es ihr, ein sehr konkretes Verständnis vom exponentiell expandierenden Raum zu erschaffen. Heute sind Taiminas Kreationen Standardmodelle zur Erklärung des hyperbolischen Raumes.
Ein anderes technisches Beispiel sind Stimmerkennungsprogramme, etwa Navigationsgeräte im Auto. Sie erkennen Männerstimmen besser als Frauenstimmen.
Technologie: Der Gender Data Gap zeigt sich auch in der Entwicklung von Technologie. Beispielsweise sind Smartphones in ihrer Bedienung auf grössere (Männer-)Hände optimiert. Viele Apps, etwa Gesundheitsapps oder Bewegungstracker, funktionieren mit der Annahme, dass das Smartphone nah am Körper getragen wird. Für viele Frauen ist das aber nicht Realität, beispielsweise, weil Hosentaschen zu klein sind für Smartphones. Ein anderes technisches Beispiel sind Stimmerkennungsprogramme, etwa Navigationsgeräte im Auto. Sie erkennen Männerstimmen besser als Frauenstimmen. Dabei sprechen Frauen im Durchschnitt langsamer und deutlicher als Männer. Die Programme wurden jedoch grösstenteils mit männlichen Stimmen trainiert.
Kompliziert unharmonisch
Mit ihrem Buch «Unsichtbare Frauen» schreibt Criado-Perez eine Geschichte der Abwesenheit. Die Autorin vertritt die Meinung, dass diese geschlechtsbezogene Datenlücke sowohl Grund als auch Folge eines Nicht-Denkens ist, das sich die Menschheit als fast ausschliesslich männlich vorstellt. Als Ausrede dafür werden eingebracht: Frauen seien einfach zu kompliziert für die Methoden der Datenerhebung. In dieser Hinsicht scheinen sich Verkehrsplaner, Mediziner und Technologie-Entwickler einig zu sein. Der weibliche Körper sei zu unharmonisch, zu hormonell, zudem menstruiere er. Weiter: Die von Frauen zurückgelegten Wegstrecken seien zu kompliziert, ihre Arbeitszeiten zu unregelmässig, ihre Stimmen zu hoch… Offenbar herrscht der Konsens, Frauen seien anormal, atypisch, einfach falsch. Warum können sie nicht sein wie Männer? Das Lesen von Criado-Perez‘ Buch ist herausfordernd, keine Märchenstunde. Unser Empörungspegel steigerte sich von Kapitel zu Kapitel. Trotzdem lohnt sich die Lektüre durch diese lückenreiche Wissenswüste, die zu erkunden erst zaghaft begonnen wird – durch Bücher wie dieses. Es liegt noch eine Menge Arbeit vor uns.
Die Autorin
Caroline Criado-Perez, 1984 geboren, ist Autorin und Rundfunkjournalistin. Als eine der international bedeutendsten feministischen Aktivistinnen ihrer Zeit wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. 2013 wurde Caroline Criado-Perez zum Human Rights Campaigner of the Year ernannt. Seit 2015 ist sie Officer of the Order of the British Empire. Sie lebt in London.