Werner: Liebe Miriam, wie siehst du Fortschritt in deinem eigenen Leben? Gibt es für dich Fortschritt in der Persönlichkeitsentwicklung? Bedeutet dir dieses Wort «Fortschritt» in diesem Zusammenhang überhaupt etwas?
Miriam: Fortschritt in meiner Persönlichkeit ist für mich etwas, was von aussen angestossen wird und zu einem inneren Prozess führt. Es gibt Menschen, die wahrhaft Geduld, Liebe und Güte ausstrahlen. Aus Begegnungen mit diesen Menschen, in echt oder auch in Büchern, erkannte ich mich im Gegensatz dazu selbst. Daraus erwuchs in mir der Wunsch diesen Vorbildern nachzueifern.
Werner: Ja, andere Menschen haben Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung. Menschen strahlen aus, stecken an. Aber wenn du so von einem Menschen angeregt bist, wie verläuft dann der innere Fortschritt?
Miriam: Einer meiner Lieblingsschriftsteller, C.S. Lewis, beschreibt diesen inneren Fortschritt als eine Veränderung des Menschen durch Handlungen. Er geht davon aus, dass alles was wir tun, eine Spur in unserem innersten Wesen hinterlässt. Es verändert sich je nach unserer Handlung ein winziges Stück Richtung Licht oder Dunkel, als Gut oder Böse. Diese kleine Veränderung beeinflusst dann bereits auch unsere nächste Entscheidung. Wenn ich zum Beispiel jemanden in einem Streit verletze, habe ich meinem Zorn nachgegeben. Dies verändert mich soweit, dass es mir in einem weiteren Konflikt noch schwerer fallen wird meinen Zorn im Zaum zu halten. Viele kleine Entscheidungen zusammen führen mich in einer Richtung, in der sich die Persönlichkeit entwickelt. Es ist meine Entscheidung, was aus mir wird.
Viele kleine Entscheidungen zusammen führen mich in einer Richtung, in der sich die Persönlichkeit entwickelt. Es ist meine Entscheidung, was aus mir wird.
Und du, Werner, wie siehst du im Rückblick, du hast ja bereits einige Jahre mehr auf dem Buckel als ich, deine Persönlichkeitsentwicklung. Wird man mit den Jahren reifer und weiser?
Werner: Ich habe da ein Bild. Ich sehe das Leben wie eine Wanderung auf einen Berg. Der Weg geht ständig um den Berg herum, immer höher. Allerdings hat es an einer Stelle, von oben bis unten, eine Schlucht. Es geht zwar aufwärts, aber immer wieder muss ich diese Schlucht überwinden. Es gibt Aspekte in meiner Persönlichkeit, an die ich immer wieder anstoße. Je höher ich komme, umso kleiner wird die Schlucht, aber sie bleibt.
Miriam: Ach Werner, du störst da meinen jugendlichen Enthusiasmus. Der Großteil meines Lebens liegt noch vor mir, ich will glauben können, dass es immer weiter vorwärtsgeht. Oder um bei deinem Bild zu bleiben, ich will den Berg auf direkten Weg bis zum Gipfel besteigen. Und dies im Eiltempo. Deine Variante ist mir zu mühsam.
Ich sehe da oben die große Gelassenheit. Nicht Gleichgültigkeit.
Werner: Kein Problem. Dann gehst du einfach direkt los auf den Berg. Und da ich fünfundfünfzig Jahre Vorsprung habe, kommen wir trotz meiner vielen Runden doch gleichzeitig oben auf dem Berg an!
Miriam: Und was erwartet dich auf dem Gipfel? Für mich wartet oben die Vollkommenheit. Dann wäre endlich mein Charakter gefestigt und meine Schwächen überwunden. Ein innerer Fortschritt der immer höher und näher zum Guten führt.
Werner: Ich sehe da oben die große Gelassenheit. Nicht Gleichgültigkeit; Welt und Menschen bleiben mir wichtig; ich engagiere mich weiter. Aber die grosse Aufregung ist vorbei. Menschen und Dinge sind, wie sie sind. Es bleibt einfach die unaufgeregte Frage: Wie stelle ich mich zu den Menschen und Situationen ein?
Schwerpunkt FortSchritt
Alles spricht von Fortschritt, von Entwicklung, von Modernisierung. UND fragt mit dem Schwerpunkt im Frühling 2016: Was ist wirklicher Fortschritt?