«Damals nach dem Krieg hätte ich die ganze Welt umarmen können. Deutschland war vernichtet, nur schon deshalb sah die Zukunft rosa aus. Ich hatte die Hoffnung, dass die Menschen aus dem Krieg gelernt haben.» Bronislaw Erlichs Bild von der Zukunft ist heute – 73 Jahre nach dem Kriegsende – düsterer geworden. Eigentlich sei er schon so alt, dass ihm vieles egal sein könnte, sagt Erlich. Doch die Werte der kommenden Generationen sind ihm wichtig. Bronislaw Erlich prangert die Politik an: «Es mangelt den Politikern an einem Bewusstsein für ihre Verantwortung. Es braucht mehr Barmherzigkeit.» Bronislaw Erlich will, dass mehr unternommen wird, damit sich etwas wie der Holocaust nicht wiederholt. Der heute 95-jährige Jude war 16 Jahre alt, als die Nationalsozialisten seine Heimatstadt Warschau bombardierten und besetzten. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen begann für Bronislaw Erlich eine Reise ins Ungewisse, der kaum eine Nacherzählung gerecht werden kann. Umso wichtiger ist es, die Erzählung aus seinem Mund zu hören – solange er noch lebt. Bronislaw Erlich ist einer von schweizweit noch 86 Menschen, die den Holocaust überlebt haben.
Während die Vögel zwitschern
Erlich erzählt seine Lebensgeschichte routiniert. Er legt viel Wert darauf, alles detailliert zu schildern und nichts auszulassen. Seine Geschichte zieht einen in seinen Bann.
Das fröhliche Zwitschern der Vögel an diesem heissen Frühlingstag holt einen immer wieder ins Jahr 2018 zurück. Der Ausblick von Erlichs Haus aus ist idyllisch, der Blick führt über das Gürbental in Richtung der schneebedeckten Berge. Der Kontrast des idyllischen Frühlingstages zum Schrecken, den Bronislaw Erlich erlebt hat, könnte grösser nicht sein. Erlich lebt seit über 40 Jahren in diesem Haus in Belp. Seine Frau Anna sitzt neben ihm, er hat sie in Deutschland nach dem Krieg kennen gelernt. Gemeinsam haben sie zwei Kinder. Ihre Tochter verstarb vor zwei Jahren. Bronislaw Erlich hat seine Geschichte zwar mit seinen Kindern geteilt, aber «sie haben mich jedoch nie so detailliert gefragt wie Sie heute».
«Pessach war für mich immer aufregend, weil ich dann schon als 12-Jähriger Wein probieren durfte.»
An die Zeit vor Kriegsausbruch erinnert er sich gerne zurück. «Warschau und das Leben pulsierten, wir führten ein friedliches Leben.» Die Welt der Familie Erlich vor Kriegsausbruch war geprägt von einem starken Familienzusammenhalt. Erlich hatte drei Geschwister. Der Vater führte eine eigene Schneiderei. Erlich besuchte die allgemeine Grundschule. Alle seine MitschülerInnen waren jüdischen Glaubens. Bei seiner Lehre der Chemigraphie arbeitete er auch mit Christen zusammen. Das Verhältnis sei immer kollegial gewesen, auch wenn Christen und Juden mehrheitlich in ihrer eigenen Gemeinschaft lebten. «Das Leben hat die Menschen verbunden.» Mit einem Lächeln erinnert sich Bronislaw Erlich an die jüdischen Feiertage. Besonders Pessach, das Fest zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, war ihm immer besonders wichtig. «Pessach war für mich immer aufregend, weil ich dann schon als 12-Jähriger Wein probieren durfte.» Der Krieg setzte dem Leben der Familie Erlich ein abruptes Ende.
«Wie konnte es geschehen?»
Bereits vor Einmarsch der Deutschen am 1. September 1939 wussten die Juden in Polen, was in Deutschland vor sich ging. Die Stimme von Adolf Hitler ertönte am Radio und die Zeitungen berichteten vom Kriegsgeschehen und der Reichskristallnacht in Deutschland. «Das Gebrüll dieses braunen Reptils hat der Bevölkerung Polens Angst gemacht.» Doch dass es noch schlimmer kommen konnte, hätten viele nicht für möglich gehalten. «Alles was uns unter Deutscher Besatzung interessierte, war ein Stück Brot nach Hause zu bringen.» Die Fragen zu dieser schnellen Entwicklung beschäftigen Bronislaw Erlich bis heute. «Wie konnte es geschehen, dass Hitler in zwölf Jahren dem deutschen Kulturvolk die christlichen Werte entriss und ein Volk von Barbaren aus ihnen machte?», fragt Erlich ungläubig. Die Vögel zwitschern draussen friedlich weiter, die Sonne scheint ins Fenster. Ab und zu klingt die Wanduhr.
Drei Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen in Warschau verliess der ältere Bruder Warschau. «Meine Mutter konnte das nicht verschmerzen, sie hat jede Nacht geweint, sie konnte sich nicht beruhigen», sagt Erlich über den Abschied des älteren Bruders. Erlich schmerzt es noch heute, dass seine Mutter so leiden musste. Kurze Zeit später beschlossen die Eltern, auch ihren jüngeren Sohn Bronislaw und seine Schwester wegzuschicken. «Das Leben unter der deutschen Besatzung war kein Leben. Das war ein Warten auf den Tod», führt Erlich fort. Dass die Vernichtung das Endziel der Nationalsozialisten war, sei den Jüdinnen und Juden in Warschau von Anfang an klar gewesen. «Die Juden waren nur geduldet, weil die Kapazitäten zur Vernichtung ausgelastet waren». Die Eltern wollten trotzdem in Warschau bleiben. Die Hoffnung war gross, dass Deutschland den Krieg bald verlieren würde. «Meine Mutter hat uns zum Bahnhof begleitet. Sie ist mit dem Zug mitgelaufen, aber wir wurden immer schneller. Ihre Augen, ihr Blick, das werde ich im Leben nicht mehr vergessen. Wir haben sie nie mehr gesehen.» Er weiss bis heute nicht genau, was mit seinen Eltern und seinem jüngsten Bruder geschah.
Eine gefälschte Geburtsurkunde
Anfang Dezember überquerten Erlich und seine Schwester die Grenze in das von der roten Armee besetzte Ostpolen. Die beiden irrten in der Kälte einige Tage umher, bis sie in der Stadt Wolkowysk Arbeit fanden. 15 Monate lang trug er in einem Kindergarten Wasser vom Brunnen ins Haus und kümmerte sich um Holz für die Heizung. Die Menschen waren arm, vor den Lebensmittelgeschäften bildeten sich lange Schlangen. Erlich gelang es, Lebensmittel zu kaufen und diese zu seinen Eltern nach Warschau zu schicken. Die Sehnsucht nach der Familie war gross. «Ich stelle mir bis heute vor, wie glücklich sie waren, als sie das Paket ausgepackt haben.» Als Dank schickten sie ihm eine Fotografie aus dem Ghetto von Warschau. «Ich nahm die Foto und rannte auf das Feld, warf mich hin und weinte wie ein Schlosshund.» Bronislaw Erlich beschreibt seine Geschichte lebhaft, dass sie wie ein Film im Kopf abläuft. Doch dann schildert er Dinge, für die wir keine Bilder kennen.
«185 Kalorien Nahrung pro Tag haben die deutschen Besatzer einem Juden zugebilligt.»
Die Deutschen zogen Richtung Osten los und nahmen im Juni 1941 auch Wolkowysk ein. Der neugewonnene Lebensrhythmus wurde erneut unterbrochen. Erlich unterbricht auch kurz die Erzählung: «Möchte jemand noch Wasser? Trinken Sie doch etwas!» Bronislaw Erlich fand Arbeit ausserhalb der Stadt bei einem Bauern. Das Leben veränderte sich unter der Besatzung drastisch: «185 Kalorien Nahrung pro Tag haben die deutschen Besatzer einem Juden zugebilligt.» Am 2. November mussten alle Jüdinnen und Juden in ein Sammellager einrücken. Erlichs Versuch, aus der Stadt zu flüchten, misslang. «In diesem Sammellager waren 30’000 Menschen. Gottseidank war ich nur 24 Stunden dort.» Die Juden der Stadt mussten von heute auf morgen ihre Wohnungen verlassen. Erlich trat eine Arbeit an und blieb somit vom Konzentrationslager verschont. Täglich musste er unter Aufsicht der SS diese Wohnungen leerräumen. «Dort kam ich auch zu neuen Kleidern und essen.»
Die Nächte verbrachte er im städtischen Gefängnis, bis ihm mit einer gefälschten Geburtsurkunde, die ihm ein Anwalt ausstellte, die Flucht gelang. «Mir ist die Flucht geglückt, weil ich Situationen ausnutzte, die sich mir boten. Wer nichts riskiert, der hat auch kein Glückt im Leben.»
Als Arier in Deutschland
Risiken musste Erlich in den folgenden Monaten noch öfters eingehen. Am neuen Ort wollte man eine Abmeldung seines alten Wohnorts sehen. Erlich lacht ab der Ironie dieser Szene und wundert sich, dass die anderen am Tisch nicht mitlachen. «Wie soll ich mich denn abmelden, soll ich ins Gefängnis zurückgehen und eine Abmeldung verlangen?» Erlich verlor die Hoffnung nicht und zog weiter. Mit der gefälschten Geburtsurkunde galt Erlich als Arier. Trotzdem bestand immer die Angst, als Jude erkannt zu werden. «Wenn ich nur Arier höre», sagt er genervt, «dann ist mir zum Kotzen!». Erlich lacht verlegen. «Entschuldigen Sie, ich liess mich gehen. Der Hass auf diese Rassenunterteilung ist in mir hochgekommen.» Dann wurde er als Zwangsarbeiter aufgeboten, um nach Deutschland zu gehen.
Erlich fühlte sich in Deutschland sicher, denn die Deutschen hätten einen Juden gar nicht erkannt. Ein paar polnische Kollegen bei der Arbeit haben ihn zwar als Juden erkannt, verraten hat ihn trotzdem niemand. Für die Deutschen war Erlich ein Arbeitstier. «Ich habe alles gelernt, was ein Landarbeiter können musste. Nur mit dem Kühe melken hatte ich Mühe. Ich kam nicht zurecht mit den Kuheutern.» Er verbrachte seine Tage auf dem Hof als Landknecht und wartete das Ende des Krieges ab. Nach dem Kriegsende reiste er zurück nach Warschau, wo ihn eine verwüstete Stadt erwartete.
«Wenn ich heute in den Nachrichten sehe, wie die Städte in Syrien aussehen, erinnert mich das an Warschau damals.» Erlich steht auf und holt Bilder aus seinem Schrank. Sie zeigen, wie Warschau vor und nach dem Krieg aussah. Beim Anblick dieser Verwüstungen kommen bei Erlich vor allem Fragen auf. «Wie konnte das geschehen, dass sechs Millionen Juden umgebracht wurden? Wo kommt diese Barbarei her? Wo ist die Menschlichkeit?» Es sei schwieriger an den Menschen zu glauben als an Gott, sagt Erlich.
Bronislaw Erlich: Ein Überlebender berichtet. Hartung Gorre Verlag, 112 Seiten.
http://rabe.ch/2018/05/02/mikroplastik-ameisen-bronislaw-erlich/