
In der Schweiz wurden Zehntausende von Menschen bis 1981 fremdplatziert, verdingt und schuldlos interniert. Diese sogenannten «fürsorgerischen» Massnahmen hatten nicht nur auf das Leben der Betroffenen traumatische Folgen. Die Erlebnisse flossen direkt oder indirekt auch in die Erziehung der Kinder und Kindeskinder ein. Um diese sogenannten «transgenerationalen» Folgen auf die Zweitgeneration geht es im Sammelband «Von Generation zu Generation», ein bedeutender sozialpsychologischer Beitrag zur moderneren Schweizer Geschichte.
Aus Sicht der Töchter und Söhne
Basierend auf biografisch-erzählenden Interviews mit insgesamt 27 Schweizerinnen und Schweizern, von denen mindestens ein Elternteil von fürsorgerischen Massnahmen betroffen war, wurde den Fragen nach der Weitergabe von Gewalt- und Erniedrigungserfahrungen, Tabuisierung und Übergriffigkeit auf die Folgegeneration nachgegangen. Ebenfalls befassten sich die Wissenschaftler*innen während ihrer dreijährigen Forschungsarbeit mit den Möglichkeiten der Prävention von Trauma-Weitergabe. Im ersten Teil des Buches geht es um das Schweigen der Erst- und der Zweitgeneration. Weitere Kapitel widmen sich den Gewalterfahrungen und ihren Auswirkungen auf das Familienleben. Im Schlussteil werden Therapien und soziale Angebote besprochen, die helfen, die Traumata zu bearbeiten und die transgenerationale Weitergabe zu unterbrechen.

Zitate, die unter die Haut gehen
Der Sammelband konfrontiert die Leserschaft mit unsäglichem Leid der Elterngeneration und ihrer Nachkommen. Dank Fallporträts und erschütternden Interview-Zitaten im sonst nüchtern gehaltenen Wissenschaftstext wird ein Psychologisieren über die Köpfe der Opfer hinweg vermieden. Die Betroffenen kommen selber zu Wort. Ihre Aussagen und ihr Schweigen werden untersucht, mit anderen Studienergebnissen verglichen und einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen.
Ein- und Ausblicke
Die Forschungsergebnisse zeigen klar: Die Traumata der Elterngeneration hatten gravierende Auswirkungen auf ihre Nachkommen. Die betroffenen Kinder reagierten sowohl emotional als auch auf der Handlungsebene unterschiedlich darauf: Häufig wurden ambivalente Gefühle geäussert wie Wut und Schuld, Liebe und Verzweiflung, Nähe-Wunsch und Distanzierungsdrang. Zu den Folgen zählten psychosomatische Beschwerden, Verstummen, Schulversagen und überangepasstes Verhalten. Interviewte erzählten von sehr lieben, aber auch ganz unberechenbaren Eltern mit Neigung zu Gewalt- und Wutausbrüchen. Einige Befragte zeigten eine Überidentifikation mit dem Erwachsenenleid, andere wünschten sich angsterfüllt nur noch Distanz. Und es gab Töchter, die ihren Eltern gegenüber selbst dann noch loyal blieben, wenn sie von ihnen vernachlässigt, geschlagen oder gar missbraucht wurden.
Von «verdeckten Lebensgeschichten» sprachen die Autor*innen dann, wenn Erzählende mehr über das Leid der Eltern, als über ihr eigenes berichteten. Die Analyseergebnisse zeigen auch, dass auffallend viele Betroffene frühzeitig das Elternhaus verlassen und sich später für sozial und biografisch Benachteiligte engagiert haben. Alle Befragten äusserten den Wunsch, das traumatische Erbe nicht an die Drittgeneration weiterzugeben. Während psychosoziale und psychotherapeutische Hilfsangebote durchwegs auf positive Resonanz trafen, führte die politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung nicht immer auf Erleichterung: Überraschenderweise traten bei einigen Familien als Folge der öffentlichen Auseinandersetzung erneute Formen des Schweigens auf – eine Erkenntnis, die weiterer Forschung bedarf.
Das 260-seitige Werk gibt – trotz dieser traurigen Einblicke – auch Hoffnung: Es zeigt auf, dass durch Verarbeitung des Erlebten und eine gesellschaftliche Leid-Anerkennung die Betroffenen selbstbewusster und beziehungsfähiger werden und dadurch auch die transgenerationale Weitergabe – zumindest teilweise – unterbrochen werden kann.
Andrea Abraham (Hrsg), Von Generation zu Generation. Wie biografische Brüche in Familien weiterwirken. Nomos Verlag, Baden-Baden 2023. (Von Generation zu Generation: Kostenloser Download).