Normalerweise lese ich mein Leibblatt nicht von vorn nach – oder bis – hinten. Für die Suche nach dem Lustigen im Leben tue ich’s ausnahmsweise.
Heinz Gfeller (70)
Die Titelseite bringt Titel; die sollen markig daherkommen. Das grosse Leben ist ernsthaft – kleine Lustigkeiten vielleicht später? Am Rand kommentiert ein Redaktor etwas Wichtiges: Das will erst recht ernst genommen sein.
Die Seiten 2 und 3 bleiben bedeutungsschwer. Eine grosse Person (gross zumal das Foto) lässt sich interviewen. Dann geht’s durch die Welt – eine schaurige Galerie. Überraschungen? Ja: Von diesem Krieg hatte ich noch nie gehört. Was, auch da herrscht Hungersnot? Von den ewigen Greuelfiguren, den Trumps, Putins, Erdogans, sehe ich ab. Taucht mal ein Artikel auf, der mit Befriedung, Aufbau mich aufbauen soll, kommt sofort Verdacht auf: Wie sieht’s sonst in dem Land aus? Wird die Leuchtfigur demnächst erschossen?
Die Schweiz! Da wird’s fröhlicher zugehen. Doch wieder hat eine Mehrheit falsch abgestimmt – und hält es für richtig. Ein ungeeigneter Bundesrat hat sich erneut lächerlich gemacht – ich habe nurmehr ein Lächeln übrig. Rückseite: Kolumnen. Jetzt bekommen die Satiriker ihren Auslauf, neben andern Rechthabern. Zuweilen kurz auflachen: Gut ausgeteilt, dem hast du’s gegeben! Schadenfreude… Die bösen Leserbriefe dazu könnte ich selber schreiben. Immerhin: Manchmal sind die unfreiwillig lustig.
Was werde ich von der Wirtschaft
verstehen? Lachhaft wenig. Auch hier herrscht Krieg. An der Börse fehle ich,
also keine Hochgefühle. Endlich! der Sport. Der wäre doch per Definition
unbeschwert. Oh, wo sind wir SchweizerInnen diesmal platziert? Im 35. Rang.
Roger weint, Wendy weint; da muss ich mithalten. Ansonsten: Verletzungen,
Doping, Entlassungen, Menschenhandel (schon
wieder Wirtschaft).
Rettung in der Kultur
In die Region: Die liegt näher, auch am Herzen, ist lockerer. Frau Meier-Müllers Sorgen möchte ich haben! Banal – wie das Wetter. Das strahlt einen halben Tag, schon zieht wieder Regen auf. Wenn’s nicht zu kalt ist, dann bestimmt zu heiss. Mich fröstelt.
Sehen wir uns das Fernsehprogramm an. Klar, der echt gute Film war gestern. Und morgen gibt’s leider Comedy. Hat’s wenigstens ein Rätsel? Hurra! Schon das erste Kreuzwort kann ich allerdings unmöglich wissen. Umblättern – aufatmen: People und ähnliche Unfälle und Verbrechen. Über Letztere zu spotten gehört sich zwar nicht. Und auf das Niveau der armen superreichen Teufel, die ja wenig zu lachen haben, will ich nicht sinken. Oh, aus der Ecke äugt noch ein Tigerbaby. Wie niedlich! Nur, Tiere lachen nicht, oder?
Retten wir uns in Kultur und Wissenschaft. Etwas über Komödien, Humor? Selten. Begeisterung täte not, für aktuelle Kunst etwa – die begreife ich nicht, also darf ich sie kaum auslachen. Jetzt bin ich schon zu erschöpft – vom reinen Lesen, von der gehobenen Sprache hier –, um mich ans Wissenswerte noch heranzuwagen.
Soll ich etwa die Werbung beachten? Die kommt ja auch vor, zwischendrin, wenn nicht zuvorderst. Oft gibt sie sich lustig, krampfhaft – oder unbewusst, wenn sie’s mit Schweizerdeutsch probiert, mit Englisch. Tieftraurig aber, wie sie mir Dinge anzudrehen versucht; für so blöd habe ich mich nicht gehalten. Deprimiert schlage ich meine Zeitung zu; ich bin am Ende. Zuunterst bekomme ich noch einen Ausgeh-Tipp: Steh auf, da und da kannst du dich heute erheitern. Recht so – ich sollte nicht immer Zeitung lesen.
Ich höre Junge über ihrem Smartphone kichern, grölen. Lachen die mich etwa aus?
Viel zu viel
Mit dem Mobilgerät der unbegrenzten Möglichkeiten, des ewigen Internets und der nie endenden Updates im Zug. Eine Antwort auf den Zeitungsleser von nebenan.
Miriam Weber (20)
Nein, natürlich lache ich nicht meine zeitungslesenden PendlerkameradInnen aus. Sie sind ja auch gefangen in der ewig gleichen Strecke und suchen Unterhaltung. Ich finde meine auf Twitter, grinse über lustige Tweets. Ob die Zeitung ihnen was Ähnliches bietet? Das bezweifle ich und schaue kurz, aber gedankenvoll aus dem Fenster.
Bald schon ist mir langweilig, die Landschaft hinter der Scheibe wiederholt sich und so richtet sich mein Blick runter auf das mittlerweile schwarze Display. Rasch habe ich den Bildschirm entsperrt. Doch was war es, das mich vorhin zum Grinsen gebracht hat? Das weiss ich nicht mehr. Die Kurzlebigkeit des Internets widerspiegelt sich in meinem Gedächtnis. Meine Unterhaltungs-Lücke braucht Füllung, ich öffne Twitter erneut. Um den Überblick über die tausend Kurznachrichten nicht zu verlieren, schicken meine Schwester und ich uns gegenseitig das Beste zu, was die App-UserInnen zu bieten haben. Unser Chat ist ein Hin und Her zwischen Tweets von Trump (sehr fragwürdig), gegen Trump (oft amüsant) und über Trump (sehr einseitig). Zwischendurch auch ein paar «härzige» Katzen-, Biber- oder Vogel-Videos. Ja, die Tiere. Sie sind die Hauptdarsteller meiner digitalen Unterhaltung.
Schon bald bietet mir Twitter nichts Neues mehr. Ich wechsle auf Instagram, ein weiteres «Soziales Netzwerk». Für die, die’s nicht kennen: Auf dieser App sind alle Menschen perfekt. Nach meinem langen Arbeitstag quäle ich mich durch Ferien-«Schnappschüsse», perfekte Selfies, Latte-Art-Kaffees und stark bearbeitete Landschaftsfotografien.
Repetitives Wischen
Ich bleibe schliesslich nach einer halben Ewigkeit von lustlosem Tippen und Wegwischen bei einem Account hängen, der Memes auf Holländisch postet. Wie ich zu dem kam? Keine Ahnung. Unterhält er mich? Weiss nicht. Am Anfang fand ich es witzig, wie viele Witze ich verstand trotz meinen fehlenden Niederländisch-Kenntnissen. Doch auch diese witzigen Witze wirken repetitiv, nicht nachhaltig unterhaltsam.
Dramatisch schalte ich mein Handy aus und packe es in meine Jackentasche. Mir gegenüber sitzen immer noch dieselben in die Zeitung vertieften, müden Gesichter. Verstohlen blicke ich auf die Titelseite, will etwas von den Neuigkeiten der realen Welt mitkriegen. Doch bevor ich die Überschriften lesen kann, surrt das Handy in meiner Jacke. Mich erreichen Pushmitteilungen von einer Nachrichten-App. Eilmeldung: Amoklauf in Thailand. Livestream: Impeachment: Trump wird freigesprochen. Kommentar: Ministerpräsident wird von AfD gewählt. Meine Gedanken: Drehen. Genervt verbanne ich mein Mobiltelefon ein für alle Mal im Rucksack. Die Endhaltestelle nähert sich, Zeitungen rascheln und Wintermäntel werden mühsam zugeknöpft. Etwas eifersüchtig richtet sich mein Blick auf die ZeitungsleserInnen. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Zeit sinnvoller investiert haben. Dass sie sich Wissen angeeignet haben, anstatt über «Wanneer je iemands whatsapp profielfoto bekijt en per ongeluk op bellen tikt» (gefolgt von einem Trump-Bild, natürlich) zu lachen.
Für meine nächste Zugfahrt nehme ich mir vor, mein iPhone von Anfang an zu ignorieren und Zeitung zu lesen. In der Hoffnung, meinen Kopf mit Dingen zu füllen, die mich auch nach dem Aussteigen noch unterhalten. Aber vielleicht verlange ich damit zu viel.