Liebe Anita
Soeben habe ich eine Woche im Haus in den Bergen bei Papa und meiner Schwester Claudia verbracht. Unterwegs mit Claudia haben wir viele Erinnerungen ausgetauscht, lachten über unsere Einfälle in der Kindheit und du kamst mir häufig in den Sinn. Wie geht es dir? Ich teile dir einige Gedanken mit, die mir durch den Kopf gehen.
Die Freiheit beim Spielen, die du kennst und geniesst, haben die Kinder im Jahr 2018 nicht mehr im gleichen Ausmass. Dafür sind im Laufe der Jahrzehnte einige für dich kaum vorstellbare Spielmöglichkeiten entstanden. Anita, du hast unzählige Plätze, wo du im Freien mit deinen FreundInnen oder Schwestern ungestört herumtoben kannst. Für euch alleine und unbeobachtet spielt ihr Fangen, Verstecken und eurer Fantasie entsprungene Spiele. Ihr habt eure geheimen Verstecke und Treffpunkte. Abends verbringt ihr die Zeit mit Brett- oder Kartenspielen, Marmeln, Bällen Malutensilien oder Lesen.
«In der Schule bist du Einzelkämpferin»
Heute haben die Kinder draussen nicht mehr so viel Freiraum. In den letzten Jahrzehnten wurden unzählige Häuser und Strassen gebaut und die Bevölkerungszahl in der Schweiz ist um mehr als zwei Millionen EinwohnerInnen gewachsen. Darum reklamieren Erwachsene häufiger, wenn Kinder Lärm machen. Ich beschreibe dir ein neues elektronisches Gerät, das heute praktisch jedes Kind in deinem Alter besitzt: ein kleines, schnurloses Telefongerät, welches in der Hosentasche Platz findet. Mit diesem sogenannten Handy kann man telefonieren, schreibend kommunizieren, Fotos schiessen und an KameradInnen verschicken, Musik hören und Filme schauen. Zudem gibt es eine Vielzahl von spannenden Spielen, die Kinder darauf meistens alleine machen. Diese sogenannten Games können einen Jungen oder ein Mädchen so in den Bann ziehen, dass er/sie stundenlange spielt, sich zurückzieht, nur seltener Zeit mit FreundInnen verbringt und zu wenig Bewegung hat. Ich hoffe, ich konnte dir eine Vorstellung von diesem vielseitigen «Spielzeug» machen.
In der Schule bist du Einzelkämpferin. Du musst jede Aufgabe alleine erledigen, aufrecht und ruhig sitzen, ohne den Kopf abzustützen. Reden ist nur erlaubt, wenn du gefragt wirst. Dank diesen «strengen Auflagen» können 30 SchülerInnen problemlos in einem Schulzimmer unterrichtet werden. Die sozialen Kontakte pflegt ihr in den kurzen Pausen und in der Freizeit, aber kaum während den Schulstunden.
Hier erledigen die SchülerInnen viele Aufgaben in Gruppen. Dabei bewegen sie sich frei im Schulzimmer und reden miteinander. So lernen sie früh, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und im Team zu arbeiten. Das finde ich etwas ganz Wichtiges. Durchsetzungsfähigkeit und Toleranz können wir uns nur in der Auseinandersetzung mit unseren Mitmenschen aneignen. Mehr als 20 SchülerInnen pro Klasse sind für LehrerInnen heute zu viel, da es in der Schulstunde lebhafter zu und hergehen darf als bei dir und die Kinder auch nicht mehr so stillsitzen können und müssen wie du.
Zum Schluss will ich dir, liebe Anita, Folgendes mitteilen. Ich wünschte mir für dich auch die Möglichkeit, im Schulunterricht die Zusammenarbeit und somit die Auseinandersetzung mit deinen MitschülerInnen üben zu können. Es wäre für deine Entwicklung hilfreich. Auch gönnte ich dir mehr Bewegungsfreiheit im Schulzimmer. Ich bin sehr froh über die Art, wie du deine Freizeit verbringst und dass du noch nicht alle modernen Spielmöglichkeiten hast. So verbringst du viel Zeit in der Natur, brauchst mehr Fantasie und hast häufiger Kontakt mit FreundInnen und deinen Schwestern. Das schreibe ich dir, weil ich dich so gut kenne wie niemand sonst auf der Welt. Ich wünsche dir alles Gute!
Herzliche Grüsse
Anita
Liebe Seraina
In den vergangenen Wochen habe ich vermehrt an dich gedacht. Dies war nicht so häufig der Fall als kleines Mädchen. Doch mit zunehmendem Alter habe ich dich mir immer häufiger vorgestellt und mit Freunden gerätselt: Wo du wohnst, womit du deine Tage verbringst, wie du aussiehst, ob du Kinder hast… Also habe ich entschieden, einige Gedanken festzuhalten.
Ob das sinnvoll ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Ich tendiere zu einem Ja, denn es ist klar, dass ich – und mit Sicherheit bin ich diesbezüglich nicht die einzige – diese Gedanken einfach nicht verhindern kann. Das möchte ich (meistens) auch nicht, denn eigentlich machen diese Überlegungen Spass. Als ich kleiner war, spielten sich die Gedankengänge ungefähr ab wie im Computerspiel «Sims»: Ich habe mir Kleider inklusive Schuhe von meiner Mutter angezogen und geschäftliche Telefonate simuliert, indem ich irgendwelche wichtig klingenden Worte aneinander gereiht habe, während ich das Handy meiner Mutter an mein Ohr gepresst hielt. Gemeinsam mit meiner Schwester haben wir Häuser in Kleinformat aus Kapla-Hölzchen gebaut. Angeregt haben wir diskutiert, wo wir wohnen und wie viele Kinder wir haben würden. Heute verläuft das Szenario vielleicht etwas realistischer, aber meist ziemlich ähnlich. An schlechten Tagen jedoch, an welchen ich eine eher pessimistische Sicht auf mein Leben habe, versuche ich, die Gedanken an dich aus meinem Kopf zu verbannen, um mich nicht mit unnötiger Angstmacherei zu quälen.
«An manchen Tagen beunruhigt mich der Gedanke an dich und die Fragen, wer du bist, was du machst, wo du wohnst…»
Klar, vielleicht ist «Angst» ein wenig hoch gegriffen und die weniger krassen Begriffe «Respekt» oder «Beunruhigung» zutreffender. Sagen wir also, an manchen Tagen beunruhigt mich der Gedanke an dich und die Fragen, wer du bist, was du machst, wo du wohnst… habe ich Respekt. Besonders die schnellen technischen Fortschritte rauben mir bereits jetzt den Atem, weshalb mir die Vorstellung der kommenden Entwicklungen erst recht Angst macht und mich nicht bloss beunruhigt. Natürlich haben alle diese Anwendungen auch reichlich Vorteile, nur passiert deren Ausbau schneller als ich mich mit ihren Basics anfreunden kann. Erst kürzlich habe ich mir eine Hörbuch-Satire angehört, in welcher eine künstliche Intelligenz – also ein Roboter – zur Bürgermeisterkandidatur antritt. Menschen werden dort in Levels eingeteilt, welche für sie je nach Höhe oder Tiefe ihrer Kategorie Partnerschaften und den Kauf von Luxusgütern möglich oder eben unmöglich machen.
Auch das Thema Umwelt und Klimaerwärmung wird bestimmt nicht aufhören, die Menschen mit Fragen und Problemen zu konfrontieren. Gletscher schmelzen, in den Jahreszeiten nehmen Extremzustände zu, Temperaturen erzielen Höchstwerte: Alle diese Fakten hinterlassen bei mir ein elendes Gefühl und viele Fragezeichen. Fährst du Ski? Schneit es im Winter auch unten im Flachland? Siehst du beim Wandern berühmte Gletscher oder nur noch deren Überbleibsel? Doch allgemein kommen mir zu deinem Leben nicht nur kritische Fragen mit höchstwahrscheinlich negativen Antworten in den Sinn. Eine Vorfreude auf mögliche Lösungswege und interessante Diskussionen breitet sich in mir aus.
Mich nimmt wunder, ob – und wenn ja – in welchem Kontext du diesen Brief lesen wirst. Ich hoffe sehr, dass du zufrieden bist, egal wo, mit wem und was du bist.
Bis (nicht allzu) bald und LG
Seraina