An einem verregneten und kalten Nachmittag im November sitze ich in Bern, in der Eingangshalle des Instituts für Exakte Wissenschaften. Ein Witz darüber, dass ein bisschen Klimaerwärmung jetzt gar nicht so schlecht wäre, scheint in Anbetracht des bevorstehenden Interviews mit Thomas Stocker unangebracht. Der Schweizer Klimaforscher war sowohl an Eisbohrungen beteiligt als auch daran, den aktuellen Forschungsstand zum Klimawandel im IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change)-Bericht zusammenzufassen. Thomas Stocker ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Akademien. In seinem Büro stehen viele Bücher, an den Wänden hängt eine grosse Weltkarte neben Kinderzeichnungen von Pinguinen und Eisbären.
Unser aktuelles Thema ist «Ewiges Eis». Wir wissen aber, dass das Wort «ewig» nicht zutrifft ist: Der Klimawandel ist Realität. Wir wissen das heute unter anderem wegen einem Forschungsgebiet, zu dem Sie beigetragen haben: Eisbohrungen in der Arktis. Was bringen solche Eisbohrungen und warum ist das wichtig?
Thomas Stocker: Diese Eisbohrungen sind eine lange Tradition unserer Abteilung für Klima- und Umweltphysik hier an der Universität Bern. Eis ist ein Klimaarchiv, weil jedes Jahr Schnee abgelagert wird. Dieser wird dann unter dem eigenen Gewicht zusammengepresst, bis er zu Eis wird. In diesem Eis finden sich immer noch Lufteinschlüsse und Spuren von chemischen Stoffen, die sich damals in der Atmosphäre befanden. In diesen Lufteinschlüssen messen wir Treibhausgase. Darin sind wir weltweit an der Spitze. Wir halten auch einen Weltrekord: Dank dem ältesten Eis, das man bis heute in der Antarktis gefunden hat, können wir jetzt die Geschichte dieser Treibhausgase 800’000 Jahre zurückverfolgen.
Was ist das Interessanteste oder Wichtigste, was Ihnen bis jetzt in dieser Forschung begegnet ist?
Erstens: Wenn man Eisbohrkerne aus Grönland analysiert, kommt man etwa 100’000 Jahre zurück. Es lässt sich ein ganzer Eiszeit-Zyklus in grossem Detail überblicken. Die wichtigste Entdeckung war die Tatsache, dass abrupte Klimaveränderungen möglich sind. Diese sind wahrscheinlich verursacht durch schnelle Änderungen in der Ozeanströmung im Atlantik. Dieses Ozean-«Förderband» bringt sehr viel Wärme in den nordatlantischen Bereich und ist somit verantwortlich für das milde Klima in Westeuropa. Wir wissen, dass sich diese Strömung ändern kann. Die Hauptlektion dieser Entdeckung war, dass unser Klimasystem fragil ist, gestört werden und sehr schnell mit grossen Auswirkungen reagieren kann. Diese können regional, hemisphärisch bis global sein.
«Dank dem ältesten Eis, das man bis heute in der Antarktis gefunden hat, können wir jetzt die Geschichte dieser Treibhausgase 800’000 Jahre zurückverfolgen.»
Thomas Stocker
Zweitens: In der Antarktis können wir die CO2-Konzentrationen im Eis mit einer sehr hohen Genauigkeit messen. CO2 ist neben dem Wasserdampf das wichtigste Treibhausgas in der Atmosphäre. Ein Resultat davon: Heute ist die CO₂-Konzentration 35 Prozent höher als jemals zuvor in den letzten 800’000 Jahren. Das war eines dieser einfachen, aber ganz wichtigen Resultate aus der Eisbohrkernforschung, in diesem Fall aus der Antarktis.
Ist der Erfolg klimaorientierter Parteien für Sie ein Zeichen dafür, dass die Wissenschaft glaubwürdiger wird oder wurde?
Nein. Ich denke, der Beitrag der Wissenschaft in den letzten 40 Jahren war wichtig für die Bereitstellung der Fakten. Wir haben aber auch erfahren, dass die Stimme der Wissenschaft für einen gesellschaftlichen Fortschritt alleine nicht reicht. Dass jetzt die Klimajugend, eine neue Stimme, an dieser Debatte teilnimmt, ist ein ganz wichtiges Element. Selbst NGOs – welche auch eine wichtige Institution für Meinungsbildung und Informationen darstellen – haben nicht gereicht, um die Gesetzgebung zu beeinflussen. Die Entstehung einer völlig neuen gesellschaftlichen Debatte in den letzten zwölf Monaten war ein «Game-changer». Es haben sich Menschen engagiert, welche das stimmberechtigte Alter noch nicht erreicht haben, aber trotzdem absolut legitimiert sind, sich an der Debatte zu beteiligen. Schliesslich werden sie am längsten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein.
Viele Menschen sagen: «Ich will keine grossen Forderungen an die Politik stellen, bevor ich vor meiner eigenen Haustüre gewischt habe.»
Da ziehe ich den Hut, aber es hilft natürlich nicht. Ein Beispiel: In Deutschland, wo es noch keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, setzen Sie ein Zeichen, fahren auf der Schnellspur konsequent nur 80 Kilometer pro Stunde. Dann werden Sie ganz einfach links und rechts überholt. Sie fühlen sich vielleicht gut, aber Sie haben nichts verändert. Wenn Sie die gleiche Energie dafür aufgewendet hätten, den politischen Prozess anzustossen, und sich für eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingesetzt hätten, gäbe es keine Raser mehr. Das ist viel effizienter als bloss mit gutem Beispiel voranzugehen.
Was sagen Sie zur Idee, die Klimawissenschaft mache sich durch ihre Einmischung in die Politik unglaubwürdig?
Das ist ein Ablenkungsmanöver, um wissenschaftliche
Informationen in eine bestimmte Ecke zu schieben, eine Strategie, diese Fakten
zu ignorieren. Der Weltklimarat versucht eben gerade nicht, politische
Entscheide «vorzuspuren», sondern politikrelevante Informationen zur Verfügung
zu stellen. Diese Berichte sind effektiv
Auslegeordnungen zur Frage: Was sind die Auswirkungen der gesellschaftlichen
Wahl eines bestimmten Szenarios: «Business as usual» oder Klimaschutz? Für ein
Business as usual-Szenario bis 2100 gehen wir von einer Gesamterwärmung, im
Vergleich zu vor-
industriellen Verhältnissen, von über 5 Grad aus. Diese Erwärmung alleine ist
gleich gross wie die zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit. Hier reden wir
von fundamentalen Veränderungen des Klimasystems, von der Energiebilanz der
gesamten Ozean- und Eiswelt und der
Atmosphäre dieses Planeten.
Das Heft des Bundesamts für Umwelt namens «Projekte und Programme zur Emissionsverminderung im Inland» hat 100 Seiten. Was sagen Sie den Menschen mit der Meinung «Wir machen ja eigentlich genug, jetzt sollen die Anderen mal etwas machen. Schliesslich sind wir nur auf Platz 72 der CO2-Ausstoss-Rangliste»?
Das ist eine irrelevante Information, wenn es darum geht, unseren Beitrag abzuschätzen. Wir müssen den Treibhausgasausstoss pro Kopf betrachten. Dort sind wir auf gleicher Ebene wie alle anderen Industriestaaten. Wenn Sie dann noch die «grauen Emissionen» dazurechnen, das heisst, was wir an ausländisch produzierten Produkten konsumieren, sind wir auf den vordersten Plätzen. Wenn wir das Pariser Abkommen befolgen wollen, muss unser CO2-Fussabdruck zurückgehen: 2030 halb so viel CO2-Emissionen, 2050 eigentlich CO2-frei. Natürlich geht dieser Rückgang zu langsam, angesichts der Anforderungen, die wir uns mit dem Pariser Abkommen gestellt haben. Dort sind wir im Moment nicht auf der Zielgeraden, das ist ganz klar. Es geht hier darum, eine Infrastruktur und Lebensweise, die seit 150 Jahren auf derselben Technologie basiert, zu transformieren. Das sind Veränderungen, welche die Wissenschaft in einer Demokratie nicht verordnen kann. Das muss ein gesellschaftlicher Prozess sein.
«Wenn man es aber positiv sieht, kann der Klimawandel eine Chance für eine weltweite Zusammenarbeit sein.»
Thomas Stocker
Sie wurden einmal als «Rudolf Nurejew der Apokalypse» beschrieben.
Das muss die Weltwoche gewesen sein! (lacht)
Genau. Sollten wir denn Angst haben?
Nein, natürlich nicht. Das ist aus einem faktenfreien Vakuum heraus geschrieben. Ich kann weder tanzen noch bin ich ein Apokalyptiker. Ich habe das Wort «Klimakatastrophe» damals, zur Zeit dieser Veröffentlichung, gar nicht benutzt. Jetzt, in Anbetracht dessen, was wir ansteuern und welche Forschungsdaten wir haben, müsste man den Begriff «Klimakatastrophe» benutzen. In sämtlichen Kommunikationen, insbesondere im fünften Zustandsbericht vom IPCC, war aber die wichtigste Aussage «We have a choice!»: zwischen einer Welt mit ungebremstem Klimawandel, inklusive allen Auswirkungen, und einer Welt, in der die Temperatur auf einem Niveau stabilisiert wird, an das sich die Mehrheit der Menschen und Ökosysteme anpassen können.
Denken Sie, wir finden den Rank?
Das ist eine gute Frage. Es wird mit jedem Jahr, in dem Emissionen nicht zurückgehen, schwieriger und ambitionierter. Im Rahmen einer Doktorarbeit haben wir ausgerechnet, wie schnell wir eigentlich ein Klimaziel «verlieren»: Ohne Emissionssenkungen wird im Jahr 2029 das 2-Grad-Ziel so ehrgeizig wie heute das 1.5-Grad-Ziel. Wir müssen leider feststellen, dass wir drauf und dran sind, schon dieses 1.5 Grad-Ziel zu verpassen. Wenn man es aber positiv sieht, kann der Klimawandel eine Chance für eine weltweite Zusammenarbeit sein. Es gibt die Möglichkeit, zusammen eine Transformation durchzuführen, die einerseits die Nachhaltigkeitsziele für 2030 und andererseits eine Kreislaufwirtschaft zum Ziel hat. Wenn die Menschheit das schafft, dann haben wir etwas Aussergewöhnliches, Einmaliges erreicht. Allerdings kostet das etwas und es wäre besser gewesen, wenn wir schon vor 40 Jahren damit angefangen hätten. Die Wissenschaft hat damals nämlich im Wesentlichen genau dasselbe gesagt.