
Was machst du jetzt?
Miriam Weber (19)
Schmunzelnd betrachteten wir damals die Liste der potenziellen Mottos unserer Maturfeier. «Entgnügt – das Gegenteil von vergnügt», lautete einer der Vorschläge, mein persönlicher Favorit. Entgnügt war die Stimmung vor dem sogenannten Höhepunkt der gymnasialen Karriere allemal. Damals als wir, die GymnasiastInnen, kniezitternd den Anfang der Maturprüfungen fürchteten und das Ende des Gymnasiums herbeisehnten. Als die insgesamt zehn Prüfungstage Mitte Juni plötzlich vorbei waren, bebte die Erde. Tonnenschwer waren die Steine, die uns von den Herzen fielen. «Hurtig hurt, mir si furt», ein weiterer Mottovorschlag beschrieb das befreiende Gefühl, die Schulzeit hinter sich zu lassen. Mir schien es, als wären mir mit der Matura Flügel gewachsen! Flügel, die mich vom Schulhaus zum am weitesten entfernten Punkt tragen wollten. Wie gerne hätte ich mich dem hingegeben, doch im tiefsten Innern und besonders in meinem Zimmer sah es noch lange nach den Prüfungen ganz anders aus.
Anfangs August, fast zwei Monate später, ertappte ich mich noch immer dabei, wie ich auf den nächsten Schulanfang wartete. Ich liess den Blätterberg unter meinem Bett und das offene Etui auf meinem Pult für sich sprechen. Doch in dieser Saison würden die Bleistifte ungespitzt bleiben, denn die Schule fing wie erwartet ohne mich an. Dort, wo früher meine Schultasche stand, entdeckte ich nun einen unter Staubschichten vergrabenen, ordinären Rucksack. An der Wand war in der Zwischenzeit ein weisser Fleck entstanden, vor dem einmal ein Stundenplan hing. Ich rappelte mich auf, Spätsommerputz war nun angesagt. Ein neuer Lebensabschnitt stand vor der Tür. Ohne die Überreste der Vergangenheit weggeräumt zu haben, konnte ich ihn unmöglich reinlassen.

Erklärungsnot macht erfinderisch
Zwischenjahr: Was für ein schönes Wort. Ein wunderbarer Euphemismus für die Ungewissheit. In den letzten paar Monaten gestaltete sich diese Wörterkomposition als Schlupfloch vor der immer wiederkehrenden Frage, was jetzt mit meinem Leben geschehen solle. Es kommt mir vor, als hätte man das alltägliche «Wie geht es dir?» mit dem Satz: «Wie sieht dein Leben in den nächsten zwölf Monaten aus?» ersetzt. «Ein Zwischenjahr» wird mein neues «Gut, danke!». Meist folgt ein verständnisloser Blick. «Was soll das bedeuten, dieses Zwischenjahr?», fragen sich nun die Fragestellenden. In meinem Kopf stelle ich mir oft vor, wie ich eine zufriedenstellende, verständliche Antwort liefere. Das Szenario sieht wie folgt aus: Ich greife, während die Zukunftsfrage noch in der Luft hängt, zu einem Kugelschreiber und einem Blatt Papier. Ich fordere dich, meinen imaginären Gesprächspartner, auf, ein präzises Bild deines Lebens in den nächsten paar Monaten zu zeichnen. Eifrig fängst du an zu skizzieren. Noch bevor du fertig bist, entreisse ich dir das Blatt und hänge die Zeichnung an einen Heliumballon. Tatenlos siehst du zu, wie er wegfliegt. Vielleicht fühlst du dich jetzt plan- oder beinahe hilflos. Unbewusst fängst du langsam an mich zu verstehen. Genau so ergeht es mir, als ich mich gegen Ende der Immatrikulationszeit für keinen Studiengang entscheiden kann. Stell dir nun vor, es trudelt gerade jetzt ein Umschlag bei dir zuhause ein. In fetten Buchstaben steht im Brief geschrieben: «Glückwunsch, du gewinnst eine einjährige Reise irgendwohin!». Absender: Diese einmalige Chance in deinem Leben, auch bekannt unter ihrem Pseudonym «Zwischenjahr». Trittst du die Reise an? Löst du dich von deinem Alltag oder hältst du dich weiterhin an deinem vorgemalten Leben fest? Bevor du es bemerkst, zerfällt letztere Option. Dein Ballon befindet sich schon lange ausser Reich- und Sichtweite, dein geplantes Leben gibt es nicht mehr. Du bist genauso planlos, wie ich es schon immer war. Also treten wir die Reise an. Du fliegst, wohin auch immer dein Wind dich trägt. Und genau das mache ich jetzt auch.
Lieber Heinz, liebe Barbara. Auch ihr seid nach eurer gymnasialen Zeit an derselben Stelle wie ich gestanden. Wie habt ihr diesen Übergang erlebt?


Noch nicht recht reif
Heinz Gfeller (69)
Liebe Miriam
Du hast, denke ich, deine Situation rund um die doch so markante «Reifeprüfung» ehrlich und munter geschildert. Und nun fragst du, wie das bei mir war?
Vorerst der mächtige Unterschied: Ich erinnere mich kaum mehr. Gewiss war die Matura wichtig; wir haben auch, einen schönen Sommer über, für sie gearbeitet, teilweise im Marzilibad. Von den Prüfungen selbst ist mir fast nichts geblieben: etwa eine französische Frage, vor der meine Fantasie versagt hat.
An meiner Maturfeier hätte ich gern gesprochen, vor grossem Publikum diffuse Ideale vorgetragen – es kam aber ein anderer Maturand zum Zug. Auch mein Aufsatz wurde nicht prämiert – da, wo ich zu ahnen begann, worauf ich im Leben hinaus wollte: Sprache, Literatur…
So war mir klar, was ich an der Uni anpacken wollte, unmittelbar nach dem Gymer; seit undenklichen Zeiten sah ich mich als Lehrer. Umso weniger klar erschien mir, was an dieser Uni abgehen sollte. Wir wurden schlecht informiert, holten uns bei Älteren ein paar Ratschläge, schwammen los. (Was meine Studienwahl angeht: Ich habe drei Jahre später noch ein Fach gewechselt.)
Bald wurde das tastende Studieren unterbrochen durch – ist das ein «Zwischenjahr»? – meine Rekrutenschule. Noch einmal war ich sozusagen – niemand. Mindestens einen Vorteil hatte das: Es konnte nun aufwärts gehen. Vielleicht sogar zu einer «Reife», später einmal.


Meine unbegrenzten Möglichkeiten
Barbara Tschopp (67)
Liebe Miriam
Es sind schon 50 Jahre her; aber ich weiss immer noch genau, wie es mir damals erging. Es gab schöne Erlebnisse, wie zum Beispiel den «Ball der hundert Tage» – ein Ball, der 100 Tage vor der Matura stattfand. Er bedeutete: Spass zu Ende, ab jetzt gibt es nur das Lernen für die Prüfungen. Der Dresscode war streng – Abendkleider schulischer Art, das heisst: weisse Blusen und dunkle Jupes für Schülerinnen, dunkle Anzüge für Schüler. Zur Eröffnung gab’s den polnischen Nationaltanz Polonaise (nicht zu verwechseln mit der Schweizer Polonese!), aber dann schwangen wir die Beine zur Jugendmusik. Es war ein kurzes Aus- und Aufatmen in der Zeit grosser Anspannung.
Kein Zwischenjahr
Wir schreiben das Frühjahr 1968. Rund um den Globus brauen sich Jugendkrawalle zusammen. Im März demonstrieren meine studierenden Kollegen in Warschau mit. Diese Weltgeschehnisse nehme ich nur am Rande wahr, weil mich die brennende Frage beschäftigt: Was soll ich machen? Welche Weichen soll ich für mein Leben stellen? Mit nicht ganz 17 Jahren muss ich diese Entscheidung treffen. Ich habe die Qual der Wahl: In allen Fächern bin ich richtig gut, auf jedem Gebiet begeistert mich etwas. Was soll ich werden? Klar sind nur zwei Sachen: Ich möchte studieren, und zwar weit von zu Hause weg, um die Selbständigkeit auszukosten.
Meine Eltern, die mein Studium finanzieren, sind damit einverstanden und lassen mir die freie Wahl. Was soll ich werden? Was soll ich werden? Verzweifelt schaue ich mich nach einer Entscheidungshilfe um. Mir schweben so unterschiedliche Berufe vor wie Hochseekapitänin, Germanistin, Biochemikerin, Journalistin… Im Mai bestehe ich die Matur mit Bestnoten – und dann gibt es kein Pardon mehr: Ich muss meine Dokumente rechtzeitig einer von mir ausgewählten Abteilung einer Uni zustellen, um zur Aufnahmeprüfung zugelassen zu werden. Als es schon keine Zeit mehr zum Weitergrübeln gibt, rät mir eine zwei Jahre ältere Freundin: Barbara, studiere dasselbe wie ich. Es ist interessant, wir haben es lustig…
Die mir unter die Arme greifende Freundin ist eine sehr intelligente, begabte Frau. Auf ihre Meinung kann ich bauen. Ich nehme sie als Vorbild und voller Zuversicht melde ich mich zum Studium an der Akademie für Bergbau- und Hüttenwesen in Krakau an, an der Abteilung, die heute Werkstofftechnik heisst.
50 Jahre danach
Ich habe meine Entscheidung nie bereut, aber auch nie in Frage gestellt. Es galt, das Studium so bald als möglich abzuschliessen, weil meine jüngeren Geschwister auch studieren wollten. Da musste ich meine Eltern entlasten, indem ich finanziell auf eigenen Beinen stand. Und übrigens: Keine Hochseekapitänin: Wegen Kurzsichtigkeit wäre ich zum Studium auf der damaligen Marine-Akademie nicht zugelassen worden; zudem leide ich auf dem Meer unter Seekrankheit.
Und meine journalistische Leidenschaft übrigens habe ich nebenbei ausgelebt, indem ich für verschiedene Zeitschriften Reportagen über meine Reisen schrieb.
In diesem Magazin lebe ich sie weiter
