Einleitend erzählte der 53-jährige André über sein bewegtes Leben. Aufgewachsen in Thun, absolvierte er eine Lehre als Automechaniker. Schnell machte er Karriere als Disponent in einer Transportunternehmung. Der Arbeitsdruck und die grosse Verantwortung begannen ihn zunehmend zu belasten. Zu spät bemerkte er sein Burnout und versuchte mit Alkohol dem Arbeitsstress standzuhalten. Als seine Sucht nicht mehr zu verbergen war, erhielt André nach 16 Jahren die Kündigung.

Immer mehr geriet er in die Abwärtsspirale und der Alkohol wurde sein ständiger Wegbegleiter. Er verbrachte einige Jahre im «Südhang», einer Klinik für alkoholkranke Menschen. Ständige Rückfälle verunmöglichten die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Seit sieben Jahren ist André nun «trocken» und kann mit strikter Abstinenz Rückfälle vermeiden. Er lebt von Gelegenheitsjobs, dem Verkauf von Strassenmagazin Surprise, den Stadtführungen und erhält ergänzend Sozialhilfe. André Hebeisen war im Dezember 2021 Gast im Generationentalk von UND Generationentandem.
Fünf Hütten
André führte uns zu fünf wichtigen Anlaufstellen für Armutsbetroffene, «Hütten» wie er sie nennt.

Einen ersten Halt machten wir beim TRiiO, einer Bewerbungswerkstatt. 14’000 Menschen gingen vor Corona jährlich dort ein und aus, jetzt hat sich diese Zahl etwa halbiert. In der Schreibstube werden Stellensuchende beim Schreiben ihrer Bewerbungsunterlagen unterstützt. Trägerschaft des Vereins sind die Evangelisch-reformierte und die Römisch-katholische Gesamtkirchgemeinde Bern.

Die zweite Anlaufstelle war der Städtische Sozialdienst www.bern.ch. André lebt in einer betreuten Wohngruppe in Bern und bezieht Sozialhilfe in Ergänzung zu seinem Einkommen. Als Sozialhilfebezüger fühlt er sich stigmatisiert. Spürbar war das für ihn vor allem in Thun, seiner ehemaligen Wohnsitzgemeinde. Er ist froh jetzt in Bern zu wohnen, wo er die Leute offener erlebt.
Der monatliche Unterstützungsbetrag von 977 Franken ist knapp bemessen, davon muss er ausser Miete und Krankenkasse alles bezahlen. André werden sämtliche Einkommen von der Sozialhilfe abgezogen. Als Anerkennung für seine Arbeitsbemühungen erhält er eine Integrationszulage (IZU).

Weiter ging es zum Caritas-Markt, wo armutsbetroffene Menschen mit einer speziellen Einkaufskarte günstig einkaufen können. Der Markt hat alle wichtigen Produkte des täglichen Lebensbedarfs, zugleich ist der Laden ein sozialer Treffpunkt. Solche Caritas-Läden gibt es an vielen Standorten in der Schweiz, unterstützt werden sie von diversen Lieferanten und Stiftungen.
Vor dem BrokiShop Blaues Kreuz gab es den vierten Halt. André arbeitete während seines Klinikaufenthaltes in dieser Broki. Wegen eines Rückfalles wurde der Arbeitsintegrationsversuch abgebrochen.

Letzte Hütte war das Azzurro, ein Restaurant des Blauen Kreuzes. Hier arbeiten gelernte Köche in einem begleiteten Arbeitseinsatz. Unser Stadtführer kann hier einen feinen Dreigänger für 7 Franken essen. Das Restaurant ist öffentlich, Gäste bezahlen aber einen höheren Menüpreis.

Surprise
Am Schluss der Tour stellte uns André noch den Verein Surprise vor, den es seit 1998 gibt. 2013 startete Basel mit den sozialen Stadtrundgängen, ein Jahr später Zürich und seit 2018 werden sie in Bern durchgeführt. Das wichtigste Standbein von Surprise sind die Magazinverkäufe. Das Strassenmagazin wird von einer professionellen Redaktion herausgegeben mit einer jährlichen Auflage von 500‘000 Exemplaren. Das Heft erscheint alle 14 Tage und wird von rund 450 VerkäuferInnen an über 100 Verkaufsstellen in der Schweiz verkauft. Alle bekommen einen zugeteilten Verkaufsplatz. André hat mittlerweile unten im Bahnhof einen privilegierten Platz. Vom Verkaufserlös von 6 Franken bleiben ihm Fr. 2.80 pro Heft (20 Rappen gehen an die AHV).
Definition Caritas «Armut»: Armut ist, wenn unerreichbar bleibt, was für andere selbstverständlich ist
Wir erlebten mit unserem Begleiter André einen spannenden Rundgang. Seine offene Art über seine schwierige Lebenssituation zu erzählen, ist bewundernswert.
