Generationenforum zum Nachschauen und Nachhören
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«Ein grosserTeil der etwa 1,7 Millionen Menschen, die in der Schweiz mit einer Behinderung leben, leben eigentlich immer noch in einer Parallelwelt. Sie besuchen andere Schulen, sie wohnen in anderen Wohnungen und arbeiten an anderen Orten. Ist das echte Teilhabe? Was bedeutet echte Teilhabe überhaupt und wie erreichen wir diese?» Das sind die zentralen Fragen des Abends.
Im gut und vielfältig besetzten Saal stellt Rebekka Flotron ihre Gäste vor:
- Manuela Kocher (51) ist Berner Grossrätin für die SP und setzt sich im Grossen Rat als Vorstandsmitglied bei der kantonalen Behindertenkonferenz Bern und als Präsidentin von Autismus Bern für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein
- Saphir Nofar Ben Dakon (28) ist Vorstandsmitglied bei AGILE.CH, Tatkraft und dem Förderverein SKB und unter anderem von einer Cerebralparese betroffen
- Irene Stüssi (20) ist Studentin für Theologie an der Universität Basel, nahm an der ersten Schweizer Behindertensession als Delegierte teil und ist sehbehindert
- Christof Trachsel (52) ist Bereichsleiter Wohnen in der Stiftung für integriertes Leben und Arbeiten (SILEA) in Thun
Die Gäste engagieren sich auf unterschiedliche Art und Weise für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Ihre Anliegen sind aber grundsätzlich gleich: Sie möchten mithelfen, die Barrieren in den Köpfen abzubauen, Behinderung und Inklusion zur Diskussion zu stellen und die Umwelt zum genauen Hinschauen zu motivieren.

Parallelwelten
Menschen mit Behinderungen leben oft in Parallelwelten, doch warum?
Die Gruppierung – oder Schubladisierung – von Menschen ist wohl historisch gewachsen. Behinderte Menschen wurden schon immer ausgegrenzt. Fehlende Rechte, zum Beispiel gerade auch in der Politik, erschwerten es ihnen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es entstanden Strukturen, die man nicht hinterfragte – sie heute anzupassen ist anstrengend, aufwändig und auch oftmals teuer.
Der schwierige Weg zu mehr Teilhabe?
Die Gäste tauschen ihre Vorstellungen und Visionen aus – und auch ihre Enttäuschungen. «Auch heute interessiert sich eigentlich noch niemand wirklich für meine Anliegen», erzählt Irene Stüsse. Eine Standardantwort, die sie oft bekommt, ist: «Das haben wir noch nie gemacht, wir schauen jetzt einmal».

Wie sollen so Parallelwelten aufgehoben werden. Dabei sei Inklusion doch ein menschenrechtsbasierter Anspruch und in einer wichtigen UNO-Konvention verankert. Menschenrechte sind für alle Menschen, unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen, gültig. Den Menschen anerkennen, in seiner Vielfalt darf nicht nur Theorie bleiben. Ein schwieriger Weg, wie es scheint.
«Das haben wir noch nie gemacht, wir schauen jetzt einmal.»
Standardantwort von Institutionen und Behörden
Wo wir noch weit weg von Inklusion sind
Bildung ist ein Bereich, in dem, obwohl dies die von der Schweiz ratifizierte UNO-Behindertenrechtskonvention eigentlich vorschreibt, immer noch wenig Inklusion stattfindet.
Saphir Ben Dakon (28) teilt ihre persönlichen Erfahrungen dazu: Sie wurde aufgrund ihrer Cerebralparese in eine Sonderschule geschickt. Zum Schutz, wie man ihr damals sagte. Saphir Ben Dakon und zum Glück auch ihr Umfeld wünschten sich in die Regelschule zu wechseln. Nach vielen Diskussionen wurden ihr schlussendlich zehn Wochen Schnuppern erlaubt. Anstatt die angestammte dritte Klasse zu besuchen, musste sie in die vierte Klasse. Die Bedingung für den Wechsel war, dass sie in allen Fächern mindestens die Note 5 erreichen musste. Man kann sich kaum vorstellen, welch immenser Druck auf dem 10-jährigen Kind lag.
Das Problem, wie Saphir Ben Dakon betont, ist, dass man Menschen mit Behinderungen oft nur als «behindert» sieht und ihre Talente und ihr Potenzial oft gar nicht erkennt (oder: erkennen möchte). Wenn die Talente und damit auch das Selbstvertrauen nicht gefördert werden, dann klappt auch oftmals der Einstieg in die Arbeitswelt nicht.
Ähnliches wie Saphri Ben Dakon erlebte Irene Stüssi als Gymnasiastin in Bern. Irene Stüssi war eine gute Schülerin und trotzdem wurde ihr immer wieder die Frage gestellt: «Ist es nicht zu viel für dich?» Diese Art von Fürsorge sieht in diesem Kontext nicht die gute und zielstrebige, sondern die behinderte Schülerin. Sie vermittelt: «Du bist deine Behinderung.»
«Diese Art von Fürsorge vermittelt: Du bist deine Behinderung.»
Irene Stüssi
Auch später in der Berufswelt gibt es häufig solche Benachteiligungen. Meistens kommt diese Stigmatisierung aus einer Überforderung heraus: Viele wissen nicht, wie sie mit behinderten Menschen mit umgehenen sollen. Daraus entsteht dann eine falsche Fürsorge. Was ebenfalls oftmals geschieht: Nicht behinderte Menschen – oder normal beeinträchtigte Menschen, wie Christof Trachsel sie nennt – bestimmen, was gut für einen behinderten Menschen ist.

Was im Gange ist
Teilhabe ist in vielen Bereichen noch nicht garantiert. Dennoch ist auch vieles im Gange: Seit 2022 können im Kanton Genf Menschen mit starken kognitiven Beeinträchtigungen wählen und abstimmen. Im Frühling wurde die Inklusionsinitiative lanciert und die erste nationale Behindertensession fand statt. Auch auf kantonaler Ebene kommt man in den nächsten Jahren in verschiedenen Bereichen einen kleinen Schritt weiter.
Als Grossrätin war Manuela Kocher stark in die Ausarbeitung und jetzt in die Umsetzung des neuen Gesetzes über Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG) involviert. Mit der Einführung des BLG (Gesetz über die Leistung für Menschen mit Behinderungen) soll im Kanton Bern ein umfassender Paradigmenwechsel im Versorgungssystem erfolgen: Der Wechsel von einer Objekt- zu einer Subjektfinanzierung. Das heisst, dass Menschen mit Behinderungen zukünftig selbst entscheiden können, wo und wie sie die Leistungen einsetzen.
«Fragt mich einfach!»
Auch wenn dieses neue Gesetz Menschen mit Behinderungen mehr Wahlfreiheit geben wird, wie Manuela Kocher und Christof Trachsel erklären, geht das Gesetz, und vor allem wie es dann schlussendlich umgesetzt wird, noch zu wenig weit. «Das ist unter anderem auch, weil Menschen mit Behinderungen in die Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes nicht involviert waren», sagt Manuela Kocher.
Bei dieser Aussage schauen sich Saphir Ben Dakon und Irene Stüssi bedeutungsvoll an. Sie beide kennen es: Es wird etwas über sie entschieden, gefragt werden sie aber nicht. Gerade bei der inklusiven Bildung fragt sich Irene Stüssi regelmässig, warum sie nicht einbezogen wird: «Fragt mich einfach. Ich weiss wie es ist, als Mensch mit Behinderung zur Schule zu gehen.»
«Sobald wir als ExpertInnen anerkannt werden, müssten sie uns auch etwas bezahlen», antwortet Irene Stüssi auf die Frage warum Menschen mit Behinderungen nicht in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Menschen mit Behinderungen müssten halt sensibilisieren, wird ihnen oft gesagt – so würden sie Verständnis für ihre Anliegen schaffen! Doch das sei nicht mehr ihre Aufgabe, sagt Saphir Ben Dakon: «Ich habe auch nur 70+ Jahre auf diesem Planeten und ich möchte diese Zeit nicht damit verschwenden, anderen immer und immer wieder erklären zu müssen, warum sie mich nicht diskriminieren sollen.»
«Ich habe auch nur 70+ Jahre auf diesem Planeten und ich möchte diese Zeit nicht damit verschwenden anderen immer und immer wieder erklären zu müssen, warum sie mich nicht diskriminieren sollen.»
Saphir Ben Dakon
Zum Schluss: Eine Differenz?
Was muss jetzt passieren, damit das mit dieser Teilhabe endlich vorwärts geht? Zum ersten und einzigen Mal an diesem Abend waren sich die Podiumsgäste nicht einig: Muss sich zuerst die Struktur oder die Haltung der Menschen verändern?

Christof Trachsel erklärt: «Ich versuche seit Jahren die Haltung gewisser Menschen zu verändern und sie lässt sich einfach nicht verändern.» Deshalb setzt er sich heute dafür ein, dass sich die Strukturen verändern. «Das sehe ich etwas anders», wirft Saphir Ben Dakon ein. Sie erklärt, dass Strukturen nur von Menschen in Machtpositionen geändert werden können. Menschen mit Behinderungen sind aber nicht in solchen Positionen. Strukturen müssen sich ändern, aber nur unter Einbezug von betroffenen Personen – und damit dieser Einbezug geschieht, muss sich die Haltung verändern.
Begegnung, ganz einfach



