Ein Glücksengel auf dem Motorrad
ab hier erzählt Jürg Krebs (71) weiter
Als Yama erwachte, lag er im feuchten Sand unter einem Busch. Es war Nacht. Er versuchte sich aufzurichten, aber ein stechender Schmerz in der Brust streckte ihn sofort wieder nieder. «Haben sie mich misshandelt und dann hierhin geworfen, weil ich ohnmächtig war? Wo bin ich? Wie kann ich überleben?» Viele Fragen und keine Antworten. Er versuchte, sich auf die Seite zu drehen und stöhnte. Da sagte eine Frauenstimme: «You are alive!» Er erschrak, verstand die Wort halb und war sofort froh, nicht ganz allein zu sein. Sie versuchte ihm zu sagen, dass die anderen Jünglinge zu Fuss über eine schlecht bewachte Grenzregion geführt worden seien und sie gesehen habe, wie man ihn hierhin geworfen habe. Sie flösste ihm Wasser mit einem starken Schmerzmittel ein und stelle sich als «freiwillige Helferin» vor.
Am frühen Morgen kam ein bärtiger Mann mit einem uralten Militärjeep und führte ihn in ein Feldlazarett. Wegen drei gebrochener Rippen müsse er sechs Wochen hier bleiben, verordnete der Arzt. Yama lernte etwas Englisch dazu und half in der Küche mit, so gut er konnte. Die Helferin brachte jeden Tag neue Patienten. Yama verliebte sich in seinen Rettungsengel, der auf einer alten Yamaha herumfuhr. Sie reagierte nicht auf seine sehnsüchtigen Blicke. Auf seine tägliche Frage, was mit ihm passieren werde, antwortete sie monoton: «Du wirst weiterreisen.» Ende der sechsten Woche sagte sie schmunzelnd zu ihm: «Ich habe die Heiratsurkunde erhalten. Wenn du willst, kannst du mit mir nach Schottland reisen.» Yama: «Dann heiraten wir?» Sie: «Ich heisse Jenny. Wir sind zum Schein verheiratet, damit du einreisen kannst.» Er: «Oh, wie schade!» Sie: «Die Reise auf dem Motorrad wird hart werden. Mal sehen, ob du es aushältst!» Auf üblen Pisten und Schotterstrassen musste er sich gut festhalten, hatte aber keine Angst, denn er vertraute ihr. Mit Geld und Charme stimmte sie die Grenzpolizisten gnädig, so dass sie rechtzeitig in Istanbul eintrafen. An Bord eines Frachtschiffes, das sie nach Schottland bringen sollte, wurde Yama seekrank; er hielt sich aber tapfer.
«Wir sind zum Schein verheiratet, damit du einreisen kannst.»
Im nördlichen Land fror Yama ständig und fand vieles seltsam und unverständlich. Er besuchte Kurse für Immigranten und fand dort Landsleute. In den Nächten hatte er oft Alpträume. Er wollte möglichst bald wieder nach Hause, doch seine Schwester schrieb ihm, in ihrer Stadt sei es noch schlimmer geworden. Jenny blieb freundlich, aber zurückhaltend. Sie nagte noch an einer bösen Erfahrung mit einem andern jungen Syrer. Die Heiratsurkunde war gefälscht gewesen und dann verbrannt. Manchmal hatte Yama ein schlechtes Gewissen, weil er gerettet worden war und Tausende andere nicht. Zu überleben war wohl Glückssache.