Der Sommer ist da. Unter hohen Bäumen strömt und glitzert die Aare vor sich hin. Sonne lockt uns hinaus. Weg mit den schweren Textilien: Zeigt her eure Füsse, eure strammen Waden und langen Beine, macht Schultern frei, geniesst Wärme und den Lufthauch auf eurer Haut.
Es gab Zeiten, da die Mode für Frauen in Paris entworfen wurde und richtungs- weisend war, für die Männerwelt kamen Vorschläge zum feinen Tuch-Anzug mit Hemd und Krawatte aus London. Alles passé. Soziologisch gesprochen sind die Grenzen heutzutage verwischt, wir sind Gleiche unter gleichen Bürgern. Kleidung zur Unterscheidung zwischen oben und unten gibt es praktisch nicht mehr, sie ist zudem noch unisex geworden. Nur bei wenigen grossen Bällen, bei Hochzeiten oder in Hollywood spielen grosse Roben und Smokings noch ihre glamouröse Rolle. Schönheit und Schmuck haben wir mittlerweile der Zweckmässigkeit geopfert.
«Athleisure»: fühl dich fit und frei
Der neue Dresscode heisst «Athleisure» (Migros-Welt April 2018), ein Mix von Freizeit- und Sportkleidung, d.h. Turnschuh, Fantasie-Top und Leggings – Jungs wählen die Trainerhose –, garniert mit modischen Zutaten wie Sonnenbrille und Tasche. Dieses Outfit ist aus dem Wunsch geboren, immer so auszusehen, als käme man gerade aus dem Fitnessstudio. Das bleibt gewiss ein frommer Wunsch, denn nehmen wir wirklich die Treppe im Laufschritt in diesen engen Hüllen? – der Fahrstuhl tut‘s doch auch. Sportkleidung im Alltag ist salonfähig geworden und modernes Marketing hat sie uns schmackhaft gemacht. Wenn der Wunsch nach Bequemlichkeit noch weiter geht, wird bei uns bald auch wie in Neuseeland vor einem Kino eine Verbotstafel stehen: «No Pyjamas please!»
Bei uns ist erlaubt, zu tragen und zu zeigen, was gefällt; es ist meine persönliche Freiheit, wie ich mich kleide – und da scheiden sich bekanntlich die Geister.
Kürzlich gab es wieder eine Schulleitung – in Solothurn (Sekundarschule Schützenmatt), die «Erwartungen» an Schülerinnen und Schüler ausgesprochen hat, wie sie sich angemessen im Schulalltag zu kleiden hätten. Für Jungs gilt, «keine T-Shirts mit sexistischem oder rassistischem Text», es sollte auch klar sein, dass niemanden die Farbe ihrer Unterhose interessiert, so tief der Hosenboden in den Kniekehlen auch hängt. Beinfreiheit ist herrlich, aber «für die Mädchen wird die Länge der Hotpants (ultrakurze Hosen) und Jupes festgeschrieben», und sobald es um ein Top geht, gilt: «Der Ausschnitt ist kein Guckkasten».
Offenbar gibt es doch Unterschiede, ob sie in der Klasse lernen, im Zug oder Bus unterwegs sind oder im Garten ausgelassen Party feiern. Auch ich werde das Gefühl nicht los, dass vielen jungen Menschen diese Unterscheidung verloren gegangen ist. Was ist angemessen, was ist locker? Das ist hier die Frage. Die Antwort liegt im Gespür jedes Einzelnen für die Situation. Das hören die coolen Kids nicht gerne, aber Freiheit ist nicht grenzenlos, sie reicht nur bis zu meinem Nächsten. Das weiss zwar jede und jeder, aber im Provozieren liegt ein hoher Spassfaktor, das dürfen wir nicht vergessen. Bleibt die Frage, ob es sich anders flirtet, wenn der «Guckkasten» geschlossen wird und ein Gurt die Jeans in die Taille zurückbringt. Auch auf die Gefahr hin, Spassbremse zu sein, sage ich: Zur Charmeoffensive gehört nicht viel, sicher aber Grips und Witz.