Das sind die Kolumnen von Jung und Alt. Hier berichten abwechslungsweise die UND-RedaktorInnen Jürg Krebs, Livia Thurian, Elias Rüegsegger und Heinz Gfeller. Diese Woche: Livia Thurian.
Wieder ist es so weit: ich schlinge. Ich schlinge, so schnell und so viel ich kann. Und merke dabei: Ich kann eigentlich gar nicht. Ich will schlafen. Oder hinausgehen. Mich bewegen. Aber nicht sitzen und schlingen.
Es ist halt mein Job, auf Staatskosten Stoff hinunterzuschlingen, bis mein Gehirn fast platzt – damit ich eines Tages verzweifelten Menschen helfen kann. Helfen, ihre innere Mitte wieder zu finden, ihre «Störung» zu bewältigen, ihre Probleme in den Griff zu kriegen. Dies werde ich natürlich mit Bravour meistern, da ich ja dann fünf Jahre lang Bücher gewälzt und Formeln zur Berechnung von standardisierten z-Werten auswendig gelernt haben werde. Dies ist enooorm wichtig, wenn man einem Menschen helfen will. Schliesslich muss ich das Individuum standardisiert betrachten und immer mit der ganzen Population vergleichen. Das gestörte Individuum unter den vielen gestörten Individuen.
Es ist ein ewiges Gerangel: Wer sichert sich die besten Möglichkeiten, um eine gute Psychologin (sind ja fast alles Frauen) zu werden? Wer bekommt das coolste Proseminar, wer den beliebtesten Betreuer bei der Bachelorarbeit? Wer schafft alle Prüfungen in der ersten Runde und muss sie nicht wiederholen? Wer hat schon alle Kapitel im Testtheorie-Buch durchgearbeitet? Ich, ich, ich!
Die Uni muss dieser Flut von Psycho-Weibern Grenzen setzen. So bekommt nur eine gute Bachelorarbeit, wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und beim online-Einschreiben dazu massenhaft Glück hat. Wer am Ende des Bachelors eine Prüfung zum dritten Mal nicht besteht, fliegt. Weiterstudieren? Nur im Ausland.
Bestimmt sind all diese Massnahmen sehr förderlich für die Menschenliebe. Aber auch wenn nicht, es ist ja nicht dieses Gefühl, das letztendlich gute Psychologen ausmacht, nein natürlich nicht! Statistiken musst du kennen, Erkrankungswahrscheinlichkeiten, die Sensitivität eines Tests, die Testscores eines potentiell Depressiven. Dann bist du gut, dann kannst du Diagnosen stellen.
Ich liebe es, zu studieren. Ich liebe es, zu lernen. Aber eigentlich ist vieles verkehrt. Es geht nicht mehr ums Lernen. Viele bestätigen dies, niemand tut etwas. Auch ich nicht. Ich lästere, aber ändere nichts.
Und so schlinge ich die Vorlesungsfolien, die Bücher, die Lernkarten. Als gäbe es kein Morgen.
UND die Kolumne
Livia Thurian ist Studentin der Psychologie und Philosophie und Kernredaktorin bei UND. Sie wohnt in Bern und schreibt abwechselnd mit den anderen UND-KolumnistInnen Jürg Krebs, Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.