Die Kolumnen von Jung und Alt. Hier berichten abwechslungsweise die UND RedaktorInnen Jürg Krebs, Livia Thurian,
Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.

Es ist ein sehr grauer, regnerischer Tag, dazu arschkalt. Meine Füsse sind, als ich aus dem Gebäude trete, sogleich zu Eisklumpen erstarrt.
Ich habe beschlossen, die Nachmittagsvorlesung sausen zu lassen. Den Stoff kann ich ja nachlesen, und wer will schon bei diesem Scheisswetter nicht einfach zu Hause rumhängen, der Teevöllerei frönen und Schoggi in sich hineinstopfen?
Antwort: Die gebückte Frau, die mich am Bahnhof anspricht. Eine rauchende Zigarette im Mund, nur mit einer grauen Strickjacke bekleidet und die grauen Haare nachlässig zusammengebunden. Sie begrüsst mich mit «Frölein, dir heit mir nid öppe chli Gäud fürnes Kafi unes Gipfeli?» Sie bekomme erst nächsten Dienstag wieder Geld und bis dahin müsse sie ohne leben. Ich zögere, blicke in ihre leicht schielenden müden Augen und krame mein Portemonnaie hervor. Leider habe ich praktisch kein Kleingeld mehr. Natürlich könnte ich ihr auch eine Note geben. Aber was habe ich da? Zwei Fünfziger vom Automaten, und vielleicht noch einen Zehner. Den könnte ich schon geben. Ihr geht es offensichtlich schlecht. Aber ich kenne die Frau doch nicht einmal. Und: Ich bin ja auch nur Studentin mit einem Budgetplan, den ich einzuhalten versuche. Würde ich jedem Menschen, der mich auf der Strasse anspricht, einen Zehner geben… Weit käme ich nicht! Ein innerer moralischer Konflikt bahnt sich an. Schlussendlich gebe ich der Frau das meiste Kleingeld, für einen Kaffee reicht es aber wohl nicht einmal.
Auch meine Kollegin, die dann dazustösst, kramt Kleingeld hervor. Sie braucht aber nicht zu lügen, denn sie hat wahrheitsgemäss wirklich nur Kleingeld im Portemonnaie, welches sie der Frau sogleich in die Hand drückt.
Später. Ich sitze im Zug. Ich denke: Ich hätte der Frau den Zehner geben sollen. Vor mir liegt eine 20Minuten-Zeitung. Oh, Wer grinst mich da an? Ja, dr Amstutz Ädu. Schön. Selbstsicher steht er da, mit einem Fallschirmrucksack am Rücken den Helm lässig mit der Rechten umfassend. Aus seinem Mund kommt die Sprechblase: «Setze ein Zeichen gegen die masslose Zuwanderung!» Darunter steht: «JETZT SVP wählen».
Als Erstes frage ich mich, warum Adrian Amstutz in Sportmontur mit einem Fallschirmrucksack und Helm posiert. Will er so die testosterongetriebenen Männer beeindrucken und die nach Männlichkeit lechzenden 50jährigen Frauen betören? Aber zurück zum eigentlichen Thema – ich werde nämlich danach stinkwütend.
Ich denke an die Frau, an ihre traurigen Augen, an mein schlechtes Gewissen. Ich denke an Menschen, die gegenwärtig nirgends zuhause und nirgends sicher sind. Von ihnen gibt es im Moment besonders viele in der Welt. Auch in der Schweiz. Was tun sie bei diesem Scheisswetter?
O-Ton «Menschenverachter»:
Sei ein Ego. Schau für dich, lass ja niemanden rein, der dir was wegnehmen könnte. Es geht nur um dich! Du musst glücklich sein, Arbeit haben, Geld haben, viel Geld haben… und es nicht an Leute verteilen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Die können eh nichts. Die sind dumm, die können nichts als ausbeuten – uns, die korrekten arbeitsamen Bürger.
Amstutz grinst immer noch. Das Zeichen für mich, einen Stift hervorzukramen. Ich will eine Botschaft und kein primitives Gekritzel hinterlassen. Die Leute nach mir im Zug sollen sehen, dass es falsch ist, dieser menschenverachtenden Aussage in der Sprechblase zuzustimmen.
Was SVP-Wähler nicht verstehen: Die Aussage in Amstutz’ Sprechblase richtet sich nicht nur gegen fliehende Menschen aus fernen Ländern, die hier Zuflucht suchen. Sondern auch gegen uns selbst. Gegen den Menschen als solchen.
UND die Kolumnen
Livia Thurian studiert Psychologie und Philosophie in Bern, mag Musik und kochen und wohnt in Thun. Abwechslungsweise schreiben als Kolumnisten Jürg Krebs, Livia Thurian, Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.