
15 Minuten zittern
Das leere Schlucken beim Anblick einer Spinne, Schlange oder eines tiefen Abgrundes beim Wandern können wohl einige Personen nachvollziehen. Was aber ist, wenn man sich vor ganz alltäglichen Dingen, wie zum Beispiel Elektrizität, fürchtet? Das Surren und Summen eines Stromkraftwerkes treibt mich in den Wahnsinn. Das Austauschen einer Glühbirne wird zu einer Mutprobe und vor dem Weidezaun fürchte ich mich vermutlich mehr als die Kühe, die durch ihn eingezäunt sind. Der Auslöser für meine Angst war vermutlich ein Zoobesuch, als ich ungefähr sechs Jahre alt war. Wir standen beim Ottergehege, und um einen besseren Blick auf die Tiere erhaschen zu können, lehnte ich mich über das Geländer. Doch das hätte ich besser sein lassen, denn der elektrische Zaun, der die Tiere umgab, verpasste mir einen heftigen Stromstoss, der meine Knie damals fast 15 Minuten lang zittern liess. Dieses Erlebnis hat sich so sehr in mein Gehirn eingebrannt, dass mir seither immer ein kalter Schauer den Rücken runterläuft, wenn ich grosse Strommasten sehe. Und ist der Grund, weshalb ich das Öffnen und Schliessen von Weidezäunen lieber anderen überlasse.
«Das Surren und Summen eines Stromkraftwerkes treibt mich in den Wahnsinn.»
Mara Ludwig

– Bild: Anita Bucher
Mit zwei Jahren fast ertrunken
Luca Michel (21)
Thalassophobie ist die wissenschaftliche Bezeichnung für die Angst vor tiefem Wasser. Das Ausmass dieser Phobie reicht von leichtem Unwohlsein bis hin zu Panikattacken. In meinem Fall zeichnet sie sich durch ein sanftes Kribbeln im Bauch aus. Die Angst vor tiefem Wasser hat wahrscheinlich mehrere Gründe, die sich auf meine frühe Kindheit zurückführen lassen. Einer der Schlüsselmomente wird gewesen sein, als ich im Alter von zwei Jahren in einem Pool fast ertrunken bin. Die Phobie macht sich vor allem in offenen Gewässern bemerkbar. Ich beginne, schneller zu schwimmen, und habe das beklemmende Gefühl, dass ich nicht vorwärts komme. Es ist vergleichbar mit dem Gefühl vieler Kinder, wenn sie die Kellertreppe hoch gerannt sind und das Adrenalin durch den Körper schiesst, weil sie sich verfolgt fühlten. Oder dem Verfolgungswahn, den man verspürt, wenn man nachts durch eine dunkle Strasse geht. Es ist dieses Gefühl, das mich wieder aus dem Wasser treibt. Auch wenn ich weiss, dass sich nichts ausser ein paar Steinen, einem Haufen Seegras und einigen kleinen Fischen im Wasser befindet, fühlt es sich dennoch so an, als würde etwas Bedrohliches unter mir schwimmen. Schlussendlich ist das Einzige, wovor ich mich fürchten muss, meine Angst selbst.

Im Mittelpunkt
Vor mehr als zwanzig Jahren besuchte ich als
Vorstandsmitglied einer Frauensportgruppe die Jubiläumsfeier des FC
Lerchenfeld. Völlig unerwartet bekam ich an diesem Abend mit, dass die
VertreterInnen anderer Vereine auf die Bühne gerufen wurden. Sie sollten
persönlich die Botschaft überbringen, was sie dem Verein zum Jubiläum schenken
möchten. Mein Problem: Es war für mich die Hölle, vor vielen Leuten zu
sprechen. Verzweifelt sah ich meine Vorstandskollegin an. Sie fragte besorgt:
«Ist dir nicht gut?» Ich erzählte ihr von meiner Angst,
worauf sie sich als erfahrenes Mitglied über mich amüsierte: «Da musst du jetzt
durch.» Mir brach der Schweiss aus, als unsere Sportgruppe aufgerufen wurde.
Ich sass da wie ein gelähmtes Kaninchen. Als ich dann nach vorne lief,
überlegte ich fieberhaft, was ich bloss sagen sollte. Prophylaktisch sagte ich,
dass ich offenbar an der falschen Stelle ein Kreuz gesetzt hätte. Dafür erntete
ich belustigtes Lachen. Davon etwas gelockert sprach ich einige Wünsche aus und
teilte mit, dass unser Verein den ersten Matchball der Saison spenden würde.
Als ich beim Apéro sogar noch ein Kompliment für meine spontane Reaktion bekam,
freute ich mich.
«Es war für mich die Hölle, vor vielen Leuten
Anita Bucher
zu sprechen.»
Auf schmalem Steg
Ich frage mich: Warum habe ich nur zu diesem Unterfangen zugesagt? Die Höhenangst muss bei mir angeboren sein. Das diffuse Unwohlsein und dann die Angst verspürte ich schon als Kind. Ich konnte kaum auf eine kurze Leiter steigen. Ist es ein Trost, dass Goethe auch Höhenangst hatte? Und nun habe ich mit Arbër abgemacht, dass wir uns dieser Angst, die wir teilen, stellen. Gemeinsam möchten wir über den schmalen Steg über die Kander gehen. Anita ist unsere moralische Begleitung, sie hat keine Höhenangst. Von der Strassenbrücke aus sieht man den Steg oben im Wald, hoch über der Kander. Arbër kann seiner Angst besser Ausdruck geben, ich bleibe stumm wie ein Fisch. Nun stehen wir vor dem Steg. Nicht hinunterschauen, nur geradeaus. Zum Glück schwankt der Steg nicht. Eigentlich geht es besser als erwartet, meine Beine werden nicht schwach. Bereits nach der Mitte des Steges ist es ganz einfach. Auf der anderen Seite angekommen, bin ich erleichtert. Auch wenn ich für den Rückweg wieder über den Steg gehen muss.
Fliegen geht, aber…
Wann es mit der Höhenangst anfing, weiss ich nicht mehr genau, aber die Symptome waren schon früh stets dieselben: Schwindel, weiche Knie, stockender Atem – ich war immer froh, wenn ich gewisse Sachen wie Wandern oder Achterbahnfahren vermeiden konnte. Ironischerweise habe ich aber keine Flugangst: In meinem Leben bin ich ein paar Mal geflogen und es gab nie grosse Schwierigkeiten. Am Fenster sitze ich aber trotzdem nicht gerne.
Wenn ich hohen Brücken begegne, kann ich sie nur mit dem Auto oder ÖV überqueren. Für meinen Selbstversuch zusammen mit Ueli wollte ich es aber auch zu Fuss schaffen. Ueli und ich begaben uns deshalb bei Einigen auf eine Brücke über die Kander. Beim Überqueren der Brücke hielt ich mich an den Stangen fest und es funktionierte einigermassen. Ich versuchte bewusst auch mal auf die Seite und nach unten zu schauen, um die Natur um mich herum zu geniessen. Anstatt einmal die Brücke zu überqueren, sind wir danach mehrmals darüber geschritten, von Mal zu Mal ging es besser. Am Ende verspürte ich sogar ein wenig Freude daran. Meine nächste persönliche Herausforderung wäre ein Riesenrad. Wieso auch nicht? Einmal die Höhenangst vergessen und dem Himmel näher sein – wie beim Fliegen.