
Xavier war schockiert, als er sein Tagebuch öffnete: da stand bereits eine Eintragung für morgen. Und zwar in seiner eigenen Handschrift! Er traute sich kaum zu lesen, was morgen passieren würde. Er entzifferte folgendes für den 7.7.2017: «Heute war ein schwarzer Tag für mich. Und das, weil ich mich falsch entschieden hatte! Tiziana eröffnete mir nämlich, dass sie keinen Mann mit kahlgeschorenem Haupt lieben könne. Sie finde das scheusslich. Und ich Idiot hatte alle meine Haare abrasieren lassen, um zu verbergen, dass mein Haaransatz leicht nach hinten gerutscht war. Was jetzt?»
Tatsächlich war Xavier für morgen, Freitag den 7.7.2017 um 7 Uhr beim Coiffeur angemeldet – für einen Kahlschnitt. Er überlegte: «Niemand weiss, dass ich Tagebuch führe. Und ich selbst war in letzter Zeit nie bekifft oder verwirrt. Will mich tatsächlich ein Geistwesen vor einer Dummheit bewahren? Oder ist es ein Jux? Aber von wem? Ich lebe ja alleine in diesem tristen Schuppen. Tiziana kann ich unmöglich anrufen. Wenn ich ihr von diesem Eintrag von Geisterhand erzähle, denkt sie, nun sei ich total durchgeknallt und hätte ein Tiefdruckgebiet im Gehirn. Also selbst entscheiden. An sich gefällt mir meine Schädelform. Darum dachte ich, Tiziana würde mich sicher geil finden, oben so nackt. Ich könnte dazu ja eine riesige Sonnenbrille tragen. In der Nacht zwar eher nicht. Mensch, ist das ein Dilemma. Und alles nur wegen dem blöden Tagebuch. Soll ich es verbrennen? Oder greift tatsächlich ein Schutzengel ein? Keine Ahnung.»
Tiziana eröffnete mir, dass sie keinen Mann mit kahlgeschorenem Haupt lieben könne
Tiziana hatte sich schon länger gefragt, ob Xavier sie wirklich liebe oder ob er einfach auf Blondinen stehe. Sie las ihr Horoskop noch einmal: Das ist ihre absolute Sternstunde. Wagen Sie den Schritt in ein neues Leben. Die grosse Liebe wartet auf sie. «Ein ganz neues Leben brauche ich zwar nicht, aber mehr Pepp dürfte es schon haben», sinnierte Tiziana. «Ich beginne mit einer total neuen Frisur. Und Lederhosen wollte ich auch schon lange. Das wird lustig. Ob die grosse Liebe erwacht, werde ich ja dann merken.» Sie liess sich am Freitag ihre langen Haare abschneiden, den Rest schwarz färben und eine Wirrwarrfrisur formen. Dann kaufte sie zur Hose auch gleich eine schwarze Jacke mit Löchern drin. «Im Sommer braucht es ja ein wenig Lüftung.»
Xavier beim Coiffeur. «Wenn sie oben alles weg haben wollen, müssen sie ihr spitzes Bärtchen auch rasieren, sonst sehen sie aus wie ein Fragezeigen: oben breit und rund, unten spitz wie ein Punkt.» Xavier zögerte einen Moment, gab sich einen Ruck und sagte: «Alles weg!» Er dachte: «Schliesslich bin ich nicht abergläubisch!»

Am Mittag sah Xavier in der Stadt eine Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Wo hatte er sie gesehen? Und wie hiess sie schon wieder? Keine Ahnung. Irgendwie sah sie aus wie eine Punkfrau. «Hat mir der Coiffeur mit den Haaren auch gleich die Erinnerung geraubt? Nun spinn mal nicht! Der Name wir dir schon noch einfallen», redete er sich gut zu.
Kurz darauf erhielt er eine SMS: «Ich wusste gar nicht, dass du einen Zwillingsbruder hast. Der arme scheint eine Chemotherapie hinter sich zu haben – absolut keine Haare mehr. Für einen Skinhead war sein Kopf zu schmal gebaut. Erzähl mir mal von ihm. Tiziana.»
«Waaas? Eine Chemo? Ich ein Skinhead?» Xavier war am Boden zerschmettert. Also hatte das Tagebuch doch richtig prophezeit! Was nun?
Er schrieb zurück: «Das muss ein Doppelgänger sein, denn ich habe keinen Bruder. Kennst du eine Frau mit schwarzen Haaren, die Leder trägt? Haben wir die nicht im Punkschuppen in Hamburg kennen gelernt? Mir ist ihr Name entfallen.»
Tiziana war entsetzt. «Ich aus einem Punkschuppen? Der Idiot hat mich gesehen und nicht einmal erkannt! Cool down Mädchen! Ich mach’ mit dem ab – in einem wüsten Lokal.»
Also hatte das Tagebuch doch richtig prophezeit! Was nun?
Am Abend trafen sie sich vor der Reitschule. Sie erkannten sich an den Stimmen, schwiegen aber nach der Begrüssung lange. Irgendwie waren sie sich fremd. Nach einem Film sassen sie bei einem Drink und schauten sich an. Tiziana lachte als Erste. Xavier zuerst nur scheu, dann immer lauter. Tiziana holte Atem und sinnierte: «Wir haben beide am gleichen Tag Haare gelassen. Warum? Um unser Selbstwertgefühl zu stärken?» Xavier: «Oder um andere zu schockieren?» Sie: «Ziemlich absurd, nicht …» Er: «Ich wollte dir besser gefallen!» «Mir?» Sie kicherte. Dann redeten sie über den Film. Schliesslich sagte Tiziana: „«Ich brauche trotz allem eine Pause mit dir. In zwei Monaten sollten deine Haare nachgewachsen sein. Dann lade ich dich ein. Mal sehen, ob doch noch die grosse Liebe daraus wird.» – «Ist es so schlimm, mit meinem Schädel?» – «Eine Frisur und ein Vollbart gefielen mir besser. Aber das ist es nicht. Du willst doch einfach eine Blondine. Oder etwa nicht?» Xavier schluckte leer. «Nicht unbedingt …» Tiziana stand auf, gab ihm ein Küsschen auf die Wange, sagte: «Ich ruf dich an», und ging.
Xavier trottete schweren Herzens nach Hause. Dort schaute er ins Tagebuch. Der Eintrag von heute, 7.7.2017 war verschwunden. Rätselhaft! «Hat sich der gute Geist nur schmollend aus meinem Tagebuch zurückgezogen oder gleich aus meinem ganzen Leben? Das wäre traurig.» Xavier ging in die nächste Bar und kam zum ersten Mal betrunken nach Hause. Am Samstag pflegte er seinen Kater und verbannte das Tagebuch in den Keller. Am Sonntag setzte er sich an sein Keyboard und komponierte seinen ersten Lovesong. Dann schrieb er dazu einen Refrain und die erste Strophe. Nach zwei Stunden üben nahm er sein Werk auf sein Handy auf und sandte es kommentarlos an Tiziana. Jeden folgenden Sonntag dichtete er eine neue, noch eindringlichere Strophe. Nach der siebten Sendung dankte Tiziana mit einem SMS. Xavier schmunzelte: das war ein Hoffnungsschimmer. Er machte ein Selfie – sein Vollbart stand ihm gut – und sandte es mit zittrigen Händen ab.