Die Kolumnen von Jung und Alt. Hier berichten abwechslungsweise die UND-AutorInnen Jürg Krebs, Livia Thurian, Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.
Mai. Endlich gibt’s wieder schöne Tage; da tritt sie denn wieder auf. Eigentlich war sie zwar ständig da – denn unsere Augen werden immer empfindlicher. Da haben wir nun den Pollenflug überstanden, oder die Schneeblindheit; jetzt wollen wir doch in die Sonne schauen. Noch vor dem Hochsommer das Mallorca-Seychellen-Feeling entwickeln. (Übrigens werden wir im Winter dorthin fliegen.) Setzen wir also die Sonnenbrille auf, oder holen sie aus der Frisur herunter.
Sieht das nach etwas aus? Sehen wir nach jemandem aus? Hoffentlich! Vielleicht schauen wir nach jemandem aus, und er/sie soll’s nicht merken. So sind wir – niemand: einer der Vorteile dieses Instruments. Hinaus sieht man, hinein nicht. Ein Gegenüber kann sich nur wehren, indem es selber eine trägt. (Es verhält sich wie mit den Handys: Entweder zücken es beide – oder keiner.)
Im Übrigen macht sie auf Mafia, auf Geheimdienst, auf Bond. Klar: Es besteht Verdunkelungsgefahr. Oder auf Clooney, Lopez, Jolie – in den Drehpausen. Doch von solchen Vergleichen wollen wir gar nichts wissen.
Sonnenbrillen passen in Sportwagen, möglichst mit Fahrtwind, an Pferderennen, an Freiluft-Apéros. Kann sein, dass wir ohne solches auskommen (müssen); wenigstens tun wir so, als wären wir mit auf dem Bild, also im Bild.
Eine Brille ist nichts Schönes, ausser für Optiker und Werber. Wird’s besser, wenn sie gefärbt ist? Dann erkennt man die Augen nicht mehr. Waren die nicht das Schönste an uns? Jedenfalls das Charakteristische. Darum legen Presse oder Fernsehen Leuten, die nicht identifiziert werden sollen, einen Balken über die Augen. Seht euch die Fotos an, worauf wir die Sonnenbrille aufbehalten haben. Aus Gewohnheit oder gar aus Eitelkeit?
Die Gläser sind nicht schön, aber machen etwas her: Sie glänzen, reflektieren – sie werfen das Gegenüber auf sich selbst zurück –, sie bräunen vielleicht. Sie spielen Mysterien vor. Sie stellen mehr dar als eine Fassade: Sie sind Schutzschirm und -schild, Paravent – wenn nicht gerade Brett vor dem Kopf.
Es gibt auch einige raffinierte Umgangsformen mit diesen Gläsern. Intellektuell oder zumindest nachdenklich das eine Bügelende im Mund. Als Blickfang vorgehängt im Brust-, im Hemdausschnitt. Klassisch jedoch: die hochgesteckte, die im Haar – virtuos sogar mit Fahrtwind; die noch viel Clooney-mässigere, die auch die grossartige Geste ermöglicht, sie herunterzuschieben und so im Geheimnis unterzutauchen. Für Frauen gar: ein Diadem, ein Krönchen. Die Brille im Haar zeigt, welch grossen, jederzeit greifbaren Stil ich in Reserve habe. Sie ist nutzlos, das erhöht ihren symbolischen Wert.
Da sind noch die aufsteckbaren, welche sich so bequem hochklappen lassen, wie ein Augenaufschlag; da stehen sie nun waagrecht vor. Die gehören den älteren Gesichtern, vor denen etwas Lächerliches weniger stört.
Wir alle brauchen Sonnenbrillen, physisch, oder doch psychisch? Verwenden wir sie nicht, machen wir uns die Augen kaputt. Oder Wichtigeres: unser Selbstbild, unsern schönen Schein. Verlieren wir gar das Gesicht?