Die Philosophie, ist im Gegensatz zur Medizin keine exakte Wissenschaft. Dies gilt auch für die Moral und Ethik, welche sich dynamisch mit der Zeit und den kulturellen Veränderungen bewegen. Während der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass sich unfassbare Begriffe wie «Anfang des Lebens» oder «Tod» ganz unterschiedlich interpretieren lassen. Wartet eine Seele auf einen irdischen Körper, so lässt sich eine Abtreibung schwer verantworten. Gibt man eine Prise wissenschaftliche oder religiöse Erkenntnisse dazu, so ergeben sich noch mehr spannende Ansichten. Nachfolgend fassen wir zusammen, was unsere persönlichen Haltungen zum Leben sind.
Augen-Blicke
Marianne Scheuter (66), Psychologin
Wann beginnt das Leben? Wann ist es zu Ende? Mit dem Beginn unseres Lebens beginnt auch die Unausweichlichkeit unseres irdischen Todes.
Für mich reichen wissenschaftliche Erkenntnisse und juristische Definitionen nicht aus, um die gewaltigen Energien zu fassen, die mit Geburt und Tod einhergehen. Ich habe in den Augen meines neugeborenen Kindes dieselbe Weite und Unendlichkeit und ein Strahlen wahrgenommen wie in den Augen meiner Mutter kurz vor ihrem irdischen Tod. Seit diesen Erfahrungen rätsle ich über die Frage, woher unsere Seele in die Welt kommt und wohin sie reist, wenn der Körper stirbt. Nein – ich glaube nicht an die Reinkarnation, sondern wohl mehr an eine Ewigkeit der Seele.
Mit dem Sterben schliesst sich in unserem Sprachgebrauch der Lebenskreis. Ein Kreis hat weder ein Ende noch einen Anfang. Kann es sein, dass sich unsere Seele auf einem viel grösseren Kreis bewegt, einem Kreis, der seine Bahn auch durch eine Welt zieht, die unserem Verstand nicht zugänglich ist? Können wir überhaupt sicher sein, dass sich mit dem Tod der Kreis geschlossen hat?
«Für mich reichen wissenschaftliche Erkenntnisse und juristische Definitionen nicht aus, um die gewaltigen Energien zu fassen, die mit Geburt und Tod einhergehen»
Marianne Scheuter
Wir Menschen sind so viel mehr als ein Zellhaufen, als unsere Neurobiologie, unsere Gene, mehr als Produkte der Sozialisierung. Wir sind auch geistige Wesen (nach Viktor Frankl, Begründer Logotherapie) und als solche mit einer grossen geistigen Welt verbunden, die wir im irdischen Dasein nur ab und zu erahnen können. Trotz diesem persönlichen Verständnis meines Daseins beginnt für mich das biologische, also medizinisch überprüfbare Leben mit der Zeugung und endet mit dem letzten Herzschlag. Mit der Geburt sind wir aufgefordert, die Herausforderungen unseres Lebens anzunehmen und es bis zum Ende zu ertragen, zu geniessen, zu lieben und zu hassen.
Was bedeutet das Leben?
Paula Grandjean (22), Rechtsstudentin
Der Frage «Wann beginnt das Leben?» möchte ich gerne die Frage «Was bedeutet Leben eigentlich?» voranstellen. Als Erstes verbinde ich mit dem Leben die rein physiologischen Aktivitäten unseres Körpers wie Herzschlag und Atmung. Doch ein Körper allein lebt noch nicht. Vielmehr stellt er eine noch leere Hülle dar. Es sind der Charakter und die Erfahrungen einer Person, die Werte und Meinungen, die sie vertritt – kurz, die Persönlichkeit, die dem Körper Leben einhaucht. Der Körper ermöglicht es uns, mit unseren Mitmenschen zu interagieren, uns mitzuteilen, Dinge zu erleben und unser Leben auf unterschiedlichste Art und Weise zu leben. Er ist also eher Träger des Lebens als das Leben selbst. Der erste Moment, in dem wir ungefiltert all den Einflüssen, die unsere Persönlichkeit prägen werden, ausgesetzt sind und direkt darauf reagieren, ist bei der Geburt, weshalb für mich dieses Ereignis den Beginn des Lebens darstellt.
«Es sind der Charakter und die Erfahrungen einer Person, die Werte und Meinungen, die sie vertritt – kurz, die Persönlichkeit, die dem Körper Leben einhaucht»
Paula Grandjean
Viele Jahre später wird der Tag X kommen, an dem unser Körper aufhört zu funktionieren und dieser Teil von uns stirbt. An diesem Tag wird vieles, aber längst nicht alles von uns verschwinden. Unsere Mitmenschen haben Werte, Ansichten, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten von uns übernommen. All dies wird in ihren Handlungen, Äusserungen und ganz besonders in ihren Erzählungen weiterleben. Erst, wenn unsere Einflüsse vollkommen verblasst sind, wenn sie keine Geschichten mehr über uns erzählen und sie uns vergessen haben, erst dann ist meines Erachtens das Leben zu Ende.
Existenz – das höchste Gut?
Jonas Eggenberger (20), Theologiestudent
Aus menschlicher Sicht sind die Grenzen des Lebens wohl kaum zu erfassen, zumal der Mensch sich in seinem bewussten Sein niemals über diese Grenzen hinausbewegen kann. Demnach werde ich der Diskussion die Ebene hinzufügen, die sich lediglich auf das stützt, was tatsächlich beobachtet werden kann: Das seiende Leben.
Dieses Leben, die Existenz als Kontrast zur «Nicht-Existenz», wäre in diesem Falle das wertvollste, das ein Mensch haben kann, zumal ohne dies alles andere ebenfalls entzogen wäre. Merkwürdigerweise wird der Wert des Lebens im Vergleich beispielsweise zum Wohlergehen des Menschen unverkennbar abgewertet. Dabei ist doch selbst Schmerz noch immer existent und damit der «Nicht-Existenz», dem Tod, überlegen. Diese Banalisierung der Abwesenheit von Leben, geschürt von Angst und Materialismus, fliesst immer stärker auch in die Ethik ein, was in einer präsäkularisierten Gesellschaft noch gar nicht möglich gewesen wäre. Allein mit der Offenbarung Gottes als «der Seiende» (JHW) war der Existenz der höchst mögliche Wert zugesprochen.
«Merkwürdigerweise wird der Wert des Lebens im Vergleich beispielsweise zum Wohlergehen des Menschen unverkennbar abgewertet»
Jonas Eggenberger
Aus dieser Perspektive betrachtet, rückt die ethische Frage nach Anfang und Ende des Lebens deutlich in den Hintergrund. Wenn das Bewahren der Existenz, die als «existierend» – unter welchen Umständen auch immer – dem «nichtexistierenden» immer überlegen ist, zum höchsten Ziel wird, so erübrigt sich die Frage, ob es sich um «werdendes» oder «vergehendes» Leben handelt. Die Existenz müsste der Nicht-Existenz in jedem Fall vorgezogen werden.
Sowohl Abtreibung als auch Sterbehilfe wären unter allen Umständen zu vermeiden, um die Erhaltung des Lebens zu gewährleisten. Dies ist in gewissen Situationen kaum umsetzbar, als allgemeiner moralischer Wert jedoch tragfähig.
Kommen und gehen
Annemarie Voss (75), Beiständin
Der erste und der letzte Atemzug und dazwischen das Leben. Ob das Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wer weiss es schon. Ich will aber gerne daran glauben, es ist einfach. Für mich gibt es kein «höheres» Leben, und Leben bezieht sich meiner Meinung nach auch nicht nur auf Menschen. Alle die geboren werden, ernährt werden, wachsen, sich meistens auch fortpflanzen und irgendwann sterben, leben. So auch meine Katze. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, die ohne Unterstützung nicht leben könnten, leben. Auch wenn sie sich vielleicht nicht austauschen können, so sind sie sehr wohl im Stande, sich mitzuteilen. Ihre Gefühle wie Freude, Leid und auch Angst können mit Einfühlungsvermögen wahrgenommen werden. Darüber, welches Leben lebenswert ist, will ich gar nicht nachdenken, zu viele Schreckens-Szenarien tauchen da in meinem Kopf auf.
«Leben bezieht sich meiner Meinung nach auch nicht nur auf Menschen»
Annemarie Voss
Der erste und letzte Atemzug ist für mich Anfang und Ende, aber eher symbolisch betrachtet. Das Herz schlägt bereits sehr viel früher, hörbar und ultraschallmässig sichtbar. Als junge Frau habe ich für das Recht auf Abtreibung demonstriert. Schwangerschaftsabbruch war damals ein heiss diskutiertes Thema und das ist es vielerorts immer noch. In den 60er- und 70er-Jahren forderten Frauen allgemein ihre Rechte ein. Selbstbestimmtes Leben war das grosse Schlagwort. Dass ungewollte Kinder oft ungeliebte Kinder sein würden, wusste ich aus eigener Erfahrung. Ich glaubte, dass es besser ist abzutreiben, als zwei Leben zu ruinieren, das der Mutter und ihres Kindes. Es schien mir auch wichtig, weil die ungewollte Schwangerschaft die Frauen betraf, die Männer konnten sich distanzieren und allenfalls ihren Beitrag finanziell leisten. Heute würde ich diese Haltung nicht mehr so vehement vertreten. Damals war «unehelich» ein Schimpfwort und eine Schande für Mutter und Kind, heute sind Alleinerziehende in unseren Breitengraden mehrheitlich akzeptiert. Ich bin nach wie vor für die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs, auch wenn damit ein werdendes Leben, dessen Herz bereits schlägt, nie den ersten Atemzug machen wird.
Mayday, Mayday, Mayday!
Jérôme Stettler (21), Rechtsstudent
«Sei der Pilot deines Lebens, nicht der Passagier.» Aber was ist mit dem Embryo, der wortwörtlich noch als Passagier mit der Mutter mitreist? Eine schwierige Frage, finde ich. Gesetzlich darf man in jedem Fall im ersten Trimester abtreiben, danach nur noch aus triftigen Gründen. Es ist Leben gegen Leben. Oder kann man einen Embryo oder Fötus schon «ein Leben» nennen? Die Grenze für mich ist unklar. Es gibt viele Anhaltspunkte, etwa der Herzschlag im Mutterbauch, oder ab dann, wo der Fötus Schmerz verspüren kann. Die Theorie, das Leben finge schon als Zellhaufen an und das als gleichwertig zu einem «richtigen» Menschen zu werten, ist für mich nicht haltbar.
«Es ist für mich also nicht abwegig, wenn man das Ableben auch selbst bestimmt»
Jérôme Stettler
Im fortgeschrittenen Alter sind wir aber meist der Pilot unseres Lebens, wir haben unser Leben in der Hand. Es ist für mich also nicht abwegig, wenn man das Ableben auch selbst bestimmt. Irgendwann ist der Tank leer, man ist im Sinkflug und eine Notlandung wäre mit Qualen verbunden und würde schlussendlich zum selben Ziel führen, dem Tod. Was jedoch, wenn man noch fit ist? Der Tank ist noch voll genug, man will aber nicht mehr und einfach nur noch den Knüppel nach unten drücken und in den Berg krachen. Diese Frage, ob bei der sogenannten «Lebensmüdigkeit» der begleitete Suizid gemacht werden sollte, lasse ich offen. Es ist schwierig, dieses Gefühl nachzuvollziehen und, als junger Mensch, sich in diese Situation hineinzuversetzen.