Die meiste Zeit habe ich mit meiner Mutter verbracht, da mein Vater immer arbeiten war. Trotzdem fand er auch Zeit für uns Kinder. Es gab oft einen Vater/Tochter-Tag, an dem ich entscheiden konnte, was ich mit meinem Vater erleben wollte. Ich habe dies sehr geschätzt. Er liess sich auf mein letztes Schuljahr pensionieren, um mir bei der Stellensuche zu helfen. Es war nicht einfach für mich, mit ihm zu kommunizieren, gerade wenn es um die Lehrstelle oder generelle Job-Vorstellungen ging. Auch heute noch ist es ein schwieriges Thema. Ich habe mich mittlerweile darauf beschränkt, ihm in dieser Richtung nichts mehr zu sagen oder nur noch Erfolge zu verkünden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht mal mehr Träume haben darf, sondern nur ausgearbeitete Zukunftsvorstellungen vorweisen sollte.

Meiner Mutter erzähle ich wesentlich mehr. Sie versteht mich besser und unterstützt mich, wo sie kann. Sie kennt mich aber auch besser als der Vater. Zu ihr gehe ich eher mit meinen Ideen, da ich nicht sofort mit Kritik rechnen muss oder mit abwertenden Bemerkungen. Auch Zukunftsträume vertraue ich lieber meiner Mutter an, da sie nicht gleich alle Punkte aufzählt, die dagegen sprechen. Das Wichtigste ist, dass sie mir zuhört und versucht zu verstehen, warum mich etwas stört oder nicht.
Meinen Eltern verdanke ich eine wunderbare Kindheit, nicht zuletzt wegen unseres Ferienhauses, wo ich zusammen mit meinen drei Schwestern viel Freiraum zum Spielen genoss. Hier gaben mir Grossmama und meine Eltern ihre Freude an der Natur weiter.
«Als Erwachsene begegneten mir die Eltern
Anita Bucher
als Gesprächspartner auf Augenhöhe.»
Bei meiner Ausbildung liessen mir die Eltern freie Wahl, was ich ihnen hoch anrechne. Als Erwachsene begegneten mir beide als Gesprächspartner auf Augenhöhe. So manche Ferien verbrachte ich gemeinsam mit meiner eigenen Familie und mit meinen Eltern im Ferienhaus, wo wir einiges zusammen unternahmen. Von meinen Beziehungsproblemen erfuhren meine Eltern erst kurz vor der Trennung, weil ich sie vorher nicht damit belasten wollte. Mama sprach mit mir gerne über die Arbeit, da sie als junge Frau auch als medizinische Praxisassistentin gearbeitet hat. Ich hatte zu beiden Elternteilen ein gutes Verhältnis. Vom Aussehen komme ich mehr nach meiner Mutter. Die introvertierte, zurückhaltende, eher verträumte Art habe ich vom Vater, wohl deswegen fühlte ich mich Papa von Kindheit an sehr nahe.
Ich wurde zuerst Maschinenzeichner, weil mich Technik faszinierte und mein Vater Erfinder beim Militär war. Die Lehre war leider langweilig. Ich wollte danach Psychologie und Philosophie studieren, hatte aber zu wenig Geld dafür. Mutter gab mir die Adresse einer neuen Ausbildungsstätte. Nach einem spannenden Vorpraktikum in einem Slum von Birmingham, England, studierte ich Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Meine Eltern hatten also Einfluss auf meine Berufswahl, aber ohne mich zu drängen. Vater hätte lieber verkündet, ich sei Ingenieur und Offizier geworden. Er interessierte sich nicht dafür, was ich arbeitete. Das lernte ich zu akzeptieren. Mutter fragte ab und zu, wie es mir im Beruf ergehe. Sie gab selbst Kurse im Erziehungsbereich und verstand mich.

Kennengelernt hatten sich meine Eltern im Skiclub Enzian. Im Winter bestiegen wir mit Skis und Fellen die Berge und im Sommer suchten wir Blumen, Kräuter und Bergkristalle. Das behielt ich einige Jahre bei, bis mir eigene Hobbies wichtiger wurden. Ich finde es heute gut, dass ich einerseits die Talente auslebte, die ich von meinen Eltern mitbekam, dann aber auch meine eigenen Wege ging.
Ich lerne momentan das Autofahren. Meine Eltern unterstützen mich finanziell. Sie bezahlen mir die Fahrstunden. Da ich noch zuhause lebe und im Moment nicht erwerbstätig bin, bin ich froh um die finanzielle Unterstützung. Meine Eltern ermöglichen es mir, mein Geld zu sparen und es anzulegen. In Aktien zu investieren ist ein grosses Thema zwischen mir und meinem Vater. Er hat mich überzeugt, einen Teil meines Ersparten zu investieren und nun sprechen wir öfters über die Wirtschaft. Es ist spannend, ihm zuzuhören und mit ihm zu diskutieren. Wir haben in wirtschaftlichen Fragen oft dieselbe Meinung. Bei politischen Themen unterscheiden wir uns eher. Ich bin froh, dass ich abstimmen darf, was ich will und mich nicht anpassen muss.
«Es ist spannend, meinem Vater zuzuhören
Stephanie Bühlmann
und mit ihm zu diskutieren.»
Wir gingen früher jeden Winter in die Skiferien nach Österreich. Es war jedes Mal ein Abenteuer und ich habe mich immer darauf gefreut. Meine Eltern brachten mir das Skifahren bei. In den Ferien bestimmten wir immer gemeinsam, was wir wo und wann machen wollten. Da hatten wir Kinder immer ein Mitspracherecht. Auch als wir einmal nach Übersee verreisen wollten, wurden wir gefragt, was wir gerne sehen oder erleben würden. Selbst wenn unsere Eltern alleine verreisten, fragten sie, ob wir daheim klarkommen.
Im Juli 2019 verbrachte ich meine Ferien bei Papa in Valbella. Als Witwer genoss mein Vater die Besuche seiner Töchter und ich als Alleinstehende verbrachte fast alle Ferien bei ihm. Zwei Ausflüge sind mir in bester Erinnerung geblieben: Zum einen machten wir eine Wanderung auf die Alp Stätz zu unserem Lieblingsrestaurant in den Bergen. Papa war für seine 89 Jahre bei guter Gesundheit und bewältigte solche Strecken gut. Strahlend und zufrieden kam er oben an und wir genossen mit meiner Schwester Claudia ein feines Essen. Zum anderen fuhren wir mit dem Postauto nach Davos, um bei schönem Wetter eine Bekannte zu treffen. Wir lachten viel und genossen den warmen Tag. Solche Ausflüge machte er sehr gerne, allerdings nicht mehr alleine. Leider waren es die letzten Ferien mit meinem geliebten Papa. Im Oktober verstarb er nach kurzer Krankheit. Ich bin dankbar für die lange Zeit, die ich ihn hatte.

Mama war von Natur aus gesellig und lachte gerne. Ich erinnere mich an zahlreiche Morgenessen mit ihr, wenn ich mit meiner Familie in Valbella weilte. Als Lerche war sie immer die Erste am Morgen und ich kam bald dazu. So hatten wir viel Zeit zum Erzählen, was uns bewegte. Wir lachten über gemeinsame Erinnerungen.
Im Frühling 2008 besuchte ich meine Eltern in Chur, um für uns drei zu kochen. Mama war da schon stark von ihrer Krebserkrankung gezeichnet. Papa und ich freuten uns darüber, dass sie für einmal richtig gut essen konnte und es ihr schmeckte. Danach hatte sie noch die Kraft, mit uns in der Stube zu plaudern. Ihre guten Tage waren so kostbar, da es so viele schlechte Tage gab. Nur einen Monat später wurde sie dann von ihrem Leiden erlöst. Auch heute denke ich noch viel an sie.
In mir drin besteht die Beziehung zu meinen Eltern nach ihrem Tod bis heute weiter und verändert sich sogar. Mir wird bewusst, welche körperlichen und seelische Stärken und Schwächen sie mir vererbten oder während der Kindheit weitergaben. Ich lernte in meinem langen Leben jedoch so viel hinzu, dass ich heute geistig an einem anderen Ort stehe als meine Eltern damals.
«In mir drin besteht die Beziehung zu meinen Eltern nach ihrem Tod bis heute weiter und verändert sich sogar.»
Jürg Krebs