Gluckernd, strömend, wild, farblos, sickernd kann der Lebensfluss sein. Ein Hauptfluss mit Nebenflüssen. Eine sprudelnde, pulsierende Quelle oder ein verdunsteter, verlandeter Tümpel – je nach Lebenssituation. Wir haben uns über unsere Lebensflüsse ausgetauscht und persönliche Gedanken entlang von vier grossen Fragen kanalisiert. Wie würdest du auf die Fragen antworten?
Stephanie Bühlmann (20), Elias Rüegsegger (26), Anita Bucher (58),
Brigitta Ingold (66)

Wie sieht mein Lebensfluss aus?
Anita: Zuerst zeigt er sich als munter über eine Bergwiese plätscherndes Bächlein. Klares Wasser fliesst über bunte Steine, die in der Sonne glitzern. Das Bächlein wird zum Bach, der als tosender Wasserfall tief unten zu Tale donnert. Zum Fluss geworden, rauscht das Wasser über Stock und Stein. Jahre später fliesst mein Fluss mit spärlichem Wasser eingeengt in einer Betonröhre unterirdisch dahin. Endlos lang scheint ihm der finstere Tunnel, bis er endlich ans Licht auftaucht und durch einfliessende Nebenbäche genährt wird. Heute fliesst mein Fluss gemächlich dahin, er hat vieles «gesehen» auf seinem Weg. Einige Nebenflüsse sind versickert, neue entstanden. Das angepasste Tempo ermöglicht ihm, sich an kleinen Dingen wie seltenen Pflanzen oder Tieren zu erfreuen.
Stephanie: Momentan ist er unruhig. Es gibt immer wieder kleinere Schwellen, die es zu überwinden gilt. Natürlich fürchtet sich mein Fluss auch ein wenig vor der Zukunft, was sich auch aufs Hier und Jetzt auswirkt. Trotzdem fliesst er glücklich vor sich hin und schlängelt sich geschickt um Hindernisse herum. Er blüht förmlich auf, da momentan viele kleine Nebenflüsse dazu kommen, seien es neue Freunde oder Hobbies, beides beruhigt meinen Fluss. Still zu stehen ist keine Option im Moment, da es viel zu tun gibt und weitere Abenteuer auf uns warten.

«Heute fliesst mein Fluss gemächlich dahin, er hat vieles gesehen auf seinem Weg. Einige Nebenflüsse sind versickert, neue entstanden. Das angepasste Tempo ermöglicht ihm, sich an kleinen Dingen wie seltenen Pflanzen oder Tieren zu erfreuen.»
Anita Bucher (58)
Brigitta: Ob wild und stürmend oder ruhig und friedlich: dem Lebensfluss lassen sich viele Eigenschaften zuschreiben wie dem Wesen des Menschen. Eine Wasserlandschaft im Tageslicht oder bei Einbruch der Dunkelheit spiegelt mein Leben, denn in dieser Landschaft gibt es tosende Flüsse, die in einen ruhigen See fliessen. Rauschende Wasserfälle, die faszinieren, aber auch angsteinflössend sind. Leise Bäche, die irgendwann versickern. Die vielfältigen Strömungen verändern sich ja immer wieder je nach Blickwinkel oder Standort, sei es auf einer Brücke oder direkt am Wasser. So sieht mein Lebensfluss aus. Heute fliesst er, plätschert ruhig und friedlich dahin, aber schon morgen kann er sich in ein tobendes Meer verwandeln.
Elias: Der Bergbach meiner Kindheit und Jugend: Das Wasser rauscht froh Richtung Tal, kaum ein Hindernis trübt den Flusslauf. Schnell fliesst das Wasser mit einer klaren Richtung: Ich will etwas bewegen, meine eigenen Projekte machen. Als 10-Jähriger eine Familienzeitung schreiben etwa oder eine eigene Webseite machen. Journalist will ich werden. Der Bergbach wird zum Fluss: Durch steile Gefilde in hohem Tempo. Mein Fluss ist bis heute schnell. Zuweilen brauche ich viel Energie, um auf dem Fluss zu bleiben, dass es mich nicht hinunterzieht.

Ist mein Lebensfluss mal ins Stocken geraten?
Anita: Manchmal taucht mein Fluss unter Eis, das mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Langsam sucht er sich in der Finsternis seinen Weg. Nur wenn die Sonne kurz durch die Wolken bricht, wird es heller. In depressiven Phasen fühle ich mich so. Meine Seele leidet, der Antrieb fehlt, die Energie ist niedrig. Sonne wird zum Lebenselixier. Dankbar bin ich, wenn ein mir nahestehender Mensch Zeit mit mir verbringt. Ich darf aber nie aufgeben und muss durchhalten, bis diese «Durststrecke» endet, was aus Erfahrung irgendwann eintrifft. Umso herrlicher ist es, wenn die Eisschicht wegschmilzt und mein Fluss unter der strahlenden Sonne weiterrauscht. Am Ufer blühen bunte Blumen in grosser Vielfalt. Vögel hüpfen pfeifend auf den aus dem Wasser ragenden Steinen und Fische tummeln sich im Wasser.
Stephanie: Vor gut einem Jahr fror mein Fluss ein. Nichts bewegte sich mehr, alles stand still. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken, da mich meine Depressionen lähmten. Ich wusste lange nicht, was das Problem war und erkannte zu spät, was ich hätte ändern müssen. Es war schwierig, dieses Eis wieder aufzutauen und endlich dieser Kälte zu entgehen. Meine Freunde und die Familie haben mir sehr geholfen und auch das Wissen, dass diese Phase bald vorüber ist, hat meinen Fluss dazu gebracht auszubrechen und weiter zu fliessen. Es war ein grausiges Gefühl auf der Stelle zu treten, ohne fliessen zu können, wie es uns passte. Ich war froh, als ich diesen Eiskanal verlassen konnte, und die Freiheit, die dann kam, übermannte mich sogar ein wenig. Was dazu führte, dass ich nicht sicher war, wohin ich nun fliessen sollte. Der Kanal gab mir zwar Struktur und Sicherheit, aber er nahm mir dafür die Selbstverwirklichung. Es war ein einschneidendes Erlebnis und sicher eine Bereicherung, auf die ich heute sogar ein klein wenig stolz bin.

«Flow ist ein Zustand höchster Konzentration und völliger Versunkenheit in eine Tätigkeit. Das kann ich erleben beim Pflanzen einer Dornenrose oder beim Lauschen einfühlsamer Musik.»
Brigitta Ingold (66)
Brigitta: Es gibt Ereignisse im Leben, da friert alles ein. Eis umgibt mich. Ich kann das Fliessen nicht mehr wahrnehmen. Die Angst hat mir den Fluss geraubt. Die Verzweiflung lässt alles stocken. Denn das Denken, das Überlegen, steht still. Eine schwere Krankheit eines Kindes, ein tragischer Todesfall kann zu einem solchen Eiszustand führen. Um dann den Lebensfluss wieder wahrzunehmen, braucht es Zeit, Geduld, viel Ruhe, vielleicht sogar eine Trauerphase. Und dann kann ich ihn wieder spüren, den verlorenen Fluss.
Elias: Ja, mein Lebensfluss hat sein unbekümmertes Plätschern verloren. Auch bei mir: Der Tod. Der Lebenslauf meiner Schwester nahm eine ganz andere, schreckliche Wendung. Während zwei Jahren durch die Schwellen der Psychiatrie, worauf ihr Lebensfluss verschwindet, sie nimmt sich das Leben. Und mein Lebensfluss muss weiterfliessen. Später stockt der Fluss – Gründe gibt es viele. Zweifel, Trauer, das Nichts … Diese Dämme bringen das Wasser zum Stehen. Der Pegel steigt, bis ein Damm bricht und die nächste Staumauer folgt. Stauseen sind nicht grundsätzlich etwas Schlimmes. Aber für den ehemaligen Bergbach doch ein arger Stopp. Das schmerzt.

Wann bin ich voll im Flow?
Anita: Wenn ich ganz im Hier und Jetzt lebe, Ideen und ausreichend Energie habe, rauscht mein Fluss munter dahin. Abwechselnd kommen Stromschnellen und grosse Felsbrocken. Am Ufer wachsen wilde Pflanzen aller Art und die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Ich bin im Fluss und das Leben bereitet mir Freude. Ich geniesse frohe Stunden mit Gesellschaft, Spiel, Gesang, und Wanderungen. Ich schaue gut für eine angepasste Balance zwischen Aktivitäten mit anderen und Zeit für mich. Das ist Voraussetzung für mein Wohlbefinden. Gelassen, zuversichtlich und vollkommen bei mir schaue ich der Zukunft entgegen.
Stephanie: Ich bin richtig im Flow, wenn gute Musik läuft und ich tanzen kann, dafür muss ich nicht mal Gesellschaft haben. Trotzdem wird es natürlich besser, wenn ich mit KollegInnen unterwegs bin und man einfach mal die Sau rauslassen kann. Ich vergesse dabei all diese kleinen Probleme, die ich habe und geniesse eine gute Zeit. Ich brauche auch keinen Alkohol, um dieses befreiende Gefühl zu erhalten. In solchen Momenten rauscht mein Lebensfluss förmlich, und ich bin auf einem Allzeithoch, von dem ich nicht wieder runterkommen will. Ich erfreue mich aber auch an ruhigen Treffen, gerade im Sommer, wenn man den Abend wieder draussen verbringen kann und es nicht so schnell dunkel wird. Allgemein liebe ich den Sommer und schon allein die Wärme und schönes Wetter bringen meinen Fluss zum Rauschen.

«Die Welle des Lebens zu reiten ist das höchste der Gefühle. Die Gischt im Gesicht, der Fokus in Flussrichtung. Der Moment zählt: Hier. Jetzt. Auf dem Wasser. Im Flow ist alles möglich.»
Elias Rüegsegger (26)
Brigitta: Flow ist ein Zustand höchster Konzentration und völliger Versunkenheit in eine Tätigkeit. Das kann ich erleben beim Pflanzen einer Dornenrose oder beim Lauschen einfühlsamer Musik. Versinken, einsinken in eine Handlung, die mich begeistert, hinreisst – dann bin ich voll im Flow.
Elias: Die Wellen des Lebensflusses zu reiten ist das höchste der Gefühle. Die Gischt im Gesicht, der Fokus in Flussrichtung. Der Moment zählt: Hier. Jetzt. Auf dem Wasser. Im Flow ist alles möglich. Mein Flow steckt andere an – und gemeinsam macht es noch mehr Freude. Nur schade, dass ich den Flow nicht erzwingen kann. Plötzlich verschwindet er. Hoffentlich kommt er immer wieder.

Welchen Einfluss haben Lebensflüsse anderer
auf mich (gehabt)?
Anita: Grossen Einfluss auf mich hatte und hat der Lebensfluss meiner Tochter. Lange waren die beiden Gewässer miteinander verbunden. Heute fliessen sie als eigenständige Flüsse nebeneinander. Hin und wieder fliessen sie zusammen. Vereint rauschen sie eine Strecke entlang. Wenn sie sich trennen, ist jeder Fluss genährt durch den anderen. Meine Tochter und ich haben eine enge Bindung, weil wir ihre ersten fünfeinhalb Lebensjahre auf uns allein gestellt waren. Wir sehen uns häufig und unterstützen uns gegenseitig, sie mich beispielsweise bei PC-Problemen, ich sie in Haushaltsfragen.
Stephanie: Der Lebensfluss meiner besten Kollegin hat mich sicher ziemlich beeinflusst. Wir kennen uns praktisch seit der ersten Minute und sind unzertrennlich. Wir sind so verschieden wie Tag und Nacht, verstehen uns aber super. Sie überredete mich, das Tanzen auszuprobieren und sonstige Hobbys. Auch sonst stellt sie meine Welt immer mal wieder auf den Kopf. Weiter beeinflusst meine Familie mich sehr, da ich sie immer rundherum habe. Vor allem meine Mutter, sie hat mir Werte auf den Weg gegeben, um die ich heute ziemlich froh bin. Dank ihr lasse ich mich auch nicht mehr so schnell entmutigen, wenn etwas nicht klappt. Das kann von nicht bestandenen Prüfungen bis zum verpfuschten Kuchen gehen. Ich habe das Gefühl, dass jeder Mensch uns beeinflusst, auf seine einzigartige Art und Weise. Unsere Flüsse sind so schnell verbunden und wieder getrennt und von jedem Fluss nimmt man ein klein wenig Wasser mit, welches einen dann bis ans Ende begleitet.

«Ich habe das Gefühl, dass jeder Mensch uns beeinflusst, auf seine einzigartige Art und Weise. Unsere Flüsse sind so schnell verbunden und wieder getrennt und von jedem Fluss nimmt man ein klein wenig Wasser mit.»
Stephanie Bühlmann (20)
Brigitta: Andere Lebensflüsse wirken auf mich. Ob ich vor einem tobenden Meer oder einem ruhig fliessenden Bach stehe, ist ein grosser Unterschied. In diesen Gewässern spiegeln sich die Gefühle der Mitmenschen, ihr Erlebtes, ihr Zustand, ihre Vibration. Sie können mich beflügeln, eine Dankbarkeit entsteht. Es kann auch sein, dass mich diese Wellen, diese Schwingungen, hinunterziehen. Es ist jedoch stets eine Lebensbereicherung, andere Menschen mit ihren Lebensflüssen wahrzunehmen.
Elias: Am Ende das grosse Meer: Jeder Tropfen, jeder Strom fliesst einmal in die weiten Wellen des Ozeans. Wenn die einzelnen Lebensflüsse symbolisch für jeden Menschen stehen, dann ist das Meer die Vereinigung von allen und allem am Ende – nach dem Tod. Damit haben die anderen Menschen, die anderen Lebensflüsse einen grossen Einfluss auf mich – vor allem mit Blick in die Zukunft. Denn einmal fliessen wir alle zusammen, einmal sind wir alle tot. Das Bild mit dem Meer ist schön. Aber nicht nur, denn mir gefällt das Bild der vielen Flüsse neben- und ineinander besser, als die weite, immer gleiche Wasserwüste. Darum: Geniessen wir das Wasser, solange es noch fliesst.
“ Das Wasser / der Fluss fließt rückwärts “ steht
irgendwo in der Bibel , wohl bei den Propheten ?
Wer kann mir helfen und sagen wo es genau steht ? Danke und Mercedes vielmals .