
Berlin im Herbst 2017: Er fiel auf wie eine Mohnblume in einem eintönigen Getreidefeld. Seines Leuchtens unbewusst ging er die vorbestimmten Gänge des Denkmales entlang. Den Kopf hatte er nach unten gesenkt, denn rundherum gab es nebst den hohen, nassen Säulen nicht viel zu sehen. Das Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas wirkte unter dem bewölkten Himmel noch düsterer als sonst. Der leise Nieselregen verstärkte die dunkle Szenerie und liess die vielen hellen Regenjacken der herumwandernden TouristInnen leuchten. So auch die dieses jungen roten Mannes.
Klicken muss gekonnt sein.
Dieses Sujet trat, während ich mich mit gezücktem Fotoapparat in einem der Gänge befand, plötzlich in mein Blickfeld, genau vor meine Linse und ich drückte ab. Jede Fotografin weiss, wie lange das Fokussieren dauert, wenn man mit analogen Kameras fotografiert, und wie viel Zeit vergeht, bis der Auslöser endlich mit einem guten Gefühl betätigt werden kann. Das Warten dauerte besonders lange an diesem Tag und trotzdem schaffte ich es irgendwie, den falschen Moment festzuhalten. Unabsichtlich jemanden in einem Abstand von höchstens zwei Metern laut und auffällig zu fotografieren, war für mich höchst unangenehm.
Auf das lärmende Klicken folgten ein komischer Moment der Stille und ein verwirrter Blickkontakt. Halbherzig schlich mir eine Entschuldigung über die Lippen und rückblickend war es dann doch keine gute Idee gewesen, genau in diesem Moment das Bild zu transportieren. Beim Transportieren schiebt man den Film mit dem Filmtransporthebel eine Länge weiter, damit eine nächste Aufnahme gemacht werden kann. Diese Bewegung löste ein eher rauschendes als klickendes Geräusche aus und verlagerte seine Aufmerksamkeit auf meine Kamera, welche den Moment nun für immer auf dem Film gefangen hielt. Dass dieses Bild nicht löschbar ist, war ihm in dem Moment vielleicht nicht bewusst.
Warum das Ganze?
Drei Wochen später fahre ich mit dem Velo in Richtung Thun und kann es kaum erwarten, ihn und die 35 anderen Fotos erneut zu sehen. In einem sympathischen Spezialgeschäft im Bälliz, warten bereits die entwickelten und digitalisierten Aufnahmen auf mich. Beim ersten Blick auf den Rücken des CD-Gehäuses schlägt mein Herz höher. Die wenigen Momentaufnahmen, welche von da an die Geschichte meiner Herbstferien erzählten, lassen mich die hohen Entwicklungskosten fast vergessen. Trotzdem sind die Kosten sowie der Zeitaufwand zwei Faktoren, die mich das ganze Prozedere noch immer hinterfragen lassen.
«Der Reiz, sich für jedes Foto doppelt so viel Zeit zu nehmen und sich dreimal zu fragen, ob man wirklich eines der wenigen Bilder für genau dieses Sujet verbrauchen möchte, packte mich.»
Miriam Weber
Mit meiner digitalen Nikon-Kamera spare ich mir die Wartezeit von fünf bis sieben Tagen und um die 15 Franken Entwicklungskosten, bis ich die Aufnahmen auf meinem Laptop in bester Qualität anschauen und bearbeiten kann. Trotzdem habe ich keinen Moment gezögert, als ich für die Berlin-Reise die nun schon über 20-jährige analoge Spiegelreflexkamera meines Vaters einpackte. Warum tat ich mir das an?

Alles begann, als ich ins Gymnasium kam. Ein Kurs für die «Analoge Fotografie» wurde den SchülerInnen im Unterrichtsfach Bildnerisches Gestalten angeboten. Da ich das Schwerpunktfach PPP (Psychologie, Pädagogik und Philosophie) belege, erfuhr ich nur indirekt von dieser alten, aufregenden Art des Fotografierens. Der Reiz, sich für jedes Foto doppelt so viel Zeit zu nehmen und sich dreimal zu fragen, ob man wirklich eines der wenigen Bilder für genau dieses Sujet verbrauchen möchte, packte viele meiner KlassenkameradInnen. Deshalb fotografiert nun Jana Sofie Liebe analog – auch für UND Generationentandem. Ein paar weitere meiner KollegInnen nahmen fortan ebenfalls die alte Kamera des Vaters oder der Mutter mit, wenn wir auf Reisen gingen. Geteiltes Leid wurde zu halbem Leid, wenn bei den anderen die Bilder ebenfalls nicht transportiert wurden oder die gemeinsame Suche nach einem passenden Objektiv auf diversen Flohmärkten so manche Stunden in Anspruch nahm.
Berechenbare Faszination
Steigt man auf die analoge Fotografie um, muss man sich einiges bewusst machen: Anstatt 100 Ferienbilder entstehen dann nur fünf an einem Tag. Aus den 100 digitalen Fotografien lassen sich nach langer Bearbeitung meist 60 anschauen. Am Ende einer Ferienwoche sprechen die Zahlen nochmals eine ganz andere Sprache: Nach sieben Tagen sitzt man am Computer vor über 400 schönen Aufnahmen, bei denen Schnappschüsse, Porträt- und Gruppenbilder sowie einige heimliche Aufnahmen von faszinierenden Fremden immer gern gesehen sind.

Aus den fünf analogen Fotografien, die man sich für einen Tag zuteilte, ist bestimmt eine verschwommen oder verwackelt – ausser man beherrscht das Handwerk bereits sehr gut. Somit ergeben sich vier einzigartige Bilder pro Tag. Hochgerechnet auf eine Woche kommt man so auf 28 spannende Aufnahmen pro Film. Ob man auf die qualitativ neue Technologie der digitalen Kameras schwört oder nostalgisch an der Analogfotografie festhält – es gibt kein Richtig und Falsch! Die andere Technik ebenfalls auszuprobieren, sollte jedoch niemand missen, denn als Fotografin hast du nie ausgelernt.

Halte einen Tag, eine Woche oder mehrere Monate lang die verschiedensten Momente und Menschen auf hunderten von Bildern fest und nimm dabei von jedem Klick etwas ganz Eigenes mit. Profitiere von den Möglichkeiten der digitalen Fotografie, wenn du bis jetzt nur analog unterwegs warst. Oder mach’s gerade umgekehrt: Statte dich mit der alten Kamera aus, die dich auf dem Märit anlächelt. Kauf dir einen 36er Film und geh auf Reisen. Erkenne den Wert eines Momentes und der Gelegenheit für ein spezielles Bild. Mach deine Vorfreude zur schönsten Freude, wenn dein Film entwickelt wird. Begegne verwirrten Gesichtern und geniesse die entstandenen Schnappschüsse. Und wer weiss, vielleicht wirst du selbst zum Opfer eines lärmigen fotografischen Zusammenstosses und landest damit in einem kleinen Magazin irgendwo auf der Welt. ☐
Ein Portät über einen faszinierenden Fotografen
Ein Interview mit dem Fotografen Christian Helmle. – Bild: Jana Sofie Liebe